Dienstag, 24. Dezember 2013

Mennoniten um Thorn und Plock, Polen









Da im 16. Jahrhundert sich sehr viele Mennoniten aus Holland um Danzig ansiedelten, war es nur logisch, dass die nächsten Generationen eine eigene Existenz aufbauten und neue Wohnplätze suchten.

So sind als weitere niederländische Siedlungen im Weichseltal um Thorn  die Orte Bógpomóż , Birke, Cierpice, Gogolin, Schnallen, Kokocko, Kolno, Nieszawka, Wełcza, Łunawy, Mątawa, Otorowo, Otłoczyn, Sosnowka, Sztynwag und andere gegründet oder neu besiedelt worden.

Ein bekannter Ältester von Nieszewka bei Thorn war Abraham Nickel im Jahr  1779, später dann Johann Nickel 1808 und Jacob Funk 1816. 

Mennonitischer Friedhof :














In der Kolonie Schröttersdorf bei Plock mit seinen 4 Dörfern Biala, Chelpowo, Maszewo und  Powsino war das Gemeinwesen durch die Herrnhuter Brüdergemeinde wesentlich mitgeprägt und ein Rückhalt für die aus Württemberg angeworbenen Kolonisten. Preußische Werbekommissare bekamen bald heraus, dass "die Herrnhuter besonders zur Auswanderung neigen“. Die Menschen bildeten Gebetsgruppen und hielten erst die Andacht in einem Beetsaal in Maszewo ab, gewannen somit die benötigte Kraft, um in einem fremden Umfeld ihre deutsche Sprache und Kultur zu pflegen und an die nächste Generation weiter geben zu können.

Dann entstanden auch in Chelpowo und Powsino je ein Beetsaal. Aus späterer Zeit ist bekannt, dass der Herrnhuter Prediger Steinberg in Powsino verhaftet wurde, weil seine Anstellungsurkunde nicht von einem russischen Amt ausgestellt war.

Zu den Herrnhutern gesellten sich auch Mennonitische Familien.

(Neben den Württembergern waren hier die Evangelischen, aus Mecklenburg stammenden Familien, besonders zahlreich).














Unter dem Begriff "Mennonite cemeteries in Poland" gibt es inzwischen viele mit Foto dokumentiert.

http://www.google.de/imgres?sa=X&biw=1440&bih=734&tbm=isch&tbnid=TseuqQk5uARQUM:&imgrefurl=http://68.97.171.102:8009/penner/mazovia.html&docid=aymq7RLK0gcACM&imgurl=http://68.97.171.102:8009/hist/SGGEE-org-breyer_map-marked-cropped.jpg&w=1476&h=970&ei=q23AUvTILcLOtQaO3oDYBA&zoom=1&iact=hc&vpx=787&vpy=196&dur=1653&hovh=182&hovw=277&tx=132&ty=101&page=1&tbnh=129&tbnw=196&start=0&ndsp=31&ved=1t:429,r:4,s:0,i:95


Mittwoch, 11. September 2013

Deutsche Siedler aus dem Lubliner Land und Wolhynien nach Kurland auf die Güter von Manteuffel


http://www.roots-saknes.lv/Ethnicities/Germans/Manteuffel/KfvManteufel1.htm

Es ist der Bericht eines einzelnen Mannes, der als erster die Ansiedlung deutscher Bauern in Kurland betrieb und dieser Aufgabe in beispielhafter Opferfreudigkeit lange Jahre hindurch sein Einkommen, seine Zeit und seine ungeteilte Kraft widmete.
Karl Freiherr von Manteuffel gen. Zoege ist 1872 in Kurland geboren als Sohn eines ritterlichen deutschen Geschlechts, das, im 13. Jahrhundert eingewandert, seit dem Anfang des 14. im Baltenland nachweisbar, im 17. Jahrhundert den Namen Manteuffel annahm. 1520 erwarb der Ahnherr Karl Soye durch Heirat Güter in Kurland, darunter das Gut Katzdangen, das seitdem ununterbrochen im Besitz der Familie blieb; der Verfasser dieser Aufzeichnungen besaß Katzdangen in dreizehnter Generation.
Der Großvater Manteuffel, geb. 1820, war kurländischer Landesbevollmächtigter, d. h. Führer der kurländischen Ritterschaft; der Vater, geb. 1846, Kreismarschall von Hasenpoth, wie später der Sohn. Die Großmutter väterlicherseits war eine Fürstin Lieven aus dem bekannten 1826 gefürsteten kurländischen Geschlecht, das sich so oft im russischen Staatsdienst ausgezeichnet hat. Mütterlicherseits ist Karl Freiherr v. Manteuffel ein Urgroßsohn des Gouverneurs von Livland Georg von Fölkersahm, mithin ein Großneffe des livländischen Bauernreformers Hamilkar von Fölkersahm, des bedeutendsten Staatsmannes, den das baltische Deutschtum im 19. Jahrhundert hervorgebracht hat. Die Großmutter mütterlicherseits ist durch ihren Vater, den Kammerherrn Alexander Walujew, zur Hälfte russischer Abstammung; der russische Innenminister unter Alexander II., Graf P. A. Walujew, war in doppelter Verwandtschaft Vetter und Onkel der Mutter Karl von Manteuffels.
Nach der Reifeprüfung am damals noch deutschen Mitauer Gymnasium (1888) verbrachte Manteuffel mehrere Jahre in Deutschland, zuerst bei den preußischen Manteuffels (dem späteren Herrenhausvorsitzenden, Sohn des Ministerpräsidenten Otto von Manteuffel), dann in Bonn zum Studium, das er 1899 mit der Erwerbung des Dr. phil. in Halle abschloß. Große Reisen, die ihn u. a. nach Frankreich, Italien und England führten, erweiterten seine Weltkenntnis. 1900 kehrte er nach Kurland zurück. Entgegen seinen Jugendwünschen, die ihn in den auswärtigen Dienst des Reiches wiesen, fand Karl von Manteuffel hier seine Lebensaufgabe. "Ich wurde", sagt er selbst in seinen Erinnerungen, "der Katzdangensche".
Der geschichtliche Wert dieser Aufzeichnungen liegt in der ungewöhnlichen völkischen Leistung des Verfassers, von der sie berichten, ihr Reiz in der ursprüng lichen und eigenwilligen Kraft der Schilderung, die ihre Wirkung vor allem der Persönlichkeit des Verfassers verdankt. Karl Freiherr von Manteuffel hat das Schicksal vieler seiner baltischen Standesgenossen geteilt: 1905 wurde sein an Erinnerungen reiches Schloß von den Revolutionären niedergebrannt; während des Weltkrieges, 1915—1917, war er seiner deutschen Gesinnung wegen nach Vjatka verbannt; 1919 hat er die Heimat verlassen, müssen und seinen großen Besitz verloren. Aber ein unbeirrbarer Glaube an die deutsche Sendung im Osten erhielt ihm das Feuer der Jugend. 1921 schrieb er die kleine Schrift "Deutschland und der Osten", die in drei Auflagen für den Gedanken der deutschen Ostsiedlung warb, und früh schon bekannte er sich zur Bewegung Adolf Hitlers, die er als ein göttliches Werkzeug zur Rettung Deutschlands begriff.
Die Persönlichkeit des "Katzdangenschen", der zu den führenden Männern des untergegangenen Kurland gehörte, hat einen echten und starken Ausdruck gefunden in zahlreichen Gedichten, Liedern und Versen, in denen er Welt und Gott, Kunst und Liebe, Volk und Heimat erlebte . Manch eine Zeile, im Alter entstanden, zieht die Summe aus Einsichten und Erfahrungen eines langen Lebens, das niemals sich selber gehörte: "Nur, was ich verschenkt, vergeben, / Wurde mein für alle Zeit." Wie ein Motto stehn in gewissem Sinne auch über seinem Siedlungswerk die Worte:
"Was ich besaß, das hab ich fortgegeben,
Ich gab mich selber hin,
Dies bleibt vom wunderreichen Leben
Mein einziger Gewinn."
Die volkspolitische Leistung Manteuffels, der in einigen Jahren vor dem Weltkrieg auf seinen Gütern in Kurland rund 4000 deutsche Bauern ansiedelte, kann nur aus dem zeitgeschichtlichen Zusammenhang richtig verstanden und gewürdigt werden. Dem baltischen Deutschtum erstanden damals, nach den bösen Erfahrungen der Revolution von 1905, einzelne Siedlungspolitiker, die nur noch von der Schaffung eines starken deutschen Bauernstandes die Rettung des Deutschtums der .Ostseeprovinzen erwarteten. Was ihrem Wirken in der an Rückschlägen so reichen deutschen Siedlungsgeschichte des Ostens für immer ihren Rang sichert, ist der opferstolze und gefahrverachtende Wagemut, mit dem sie ans Werk gingen, ein Erbteil alter Kolonialtradition. Neben dem Katzendangenschen Manteuffel, der das Beispiel gab und mit seiner wahrhaft großen Opferwilligkeit, seiner Uneigennützigkeit und Tatkraft ein Beispiel blieb, wirkte in Kurland in großem Stil vor allem Silvio Brödrich-Kurmahlen. Sie und ihre Gesinnungsgenossen haben 1906 bis 1914 in Kurland rund 135000 Morgen mit rund 15000 deutschen Bauern besiedelt. Livland folgte in kleinerem Maßstab, während in Estland die alte Ungunst des Bodens und des Klimas den Plänen der politischen Führer dieselben Schwierigkeiten entgegensetzte, die schon immer dem Gedanken deutscher Bauernsiedlung im Baltenland hindernd im Wege gestanden hatten.
Nur ein einheitlicher, zusammenfassender und ausgleichender Wille, nur ein moderner volkspolitischer Aktivismus hätte dieser Schwierigkeiten Herr zu werden vermocht. Während des Weltkrieges haben die deutschen Ritterschaften des Baltenlandes einen großangelegten Versuch unternommen, die Voraussetzungen für eine deutsche Bauernsiedlung zu schaffen. In der Zeitfolge, wie die deutschen Truppen das Land befreiten und besetzten, hat eine der alten deutschen ständischen Körperschaften nach der andern ein Drittel ihres Landbesitzes freiwillig für die Ansiedlung deutscher Bauern zur Verfügung gestellt. Vorangegangen war am 29. August 1915 der kurländische Landtag. Der Zusammenbruch vom November 1918 machte all diesen Plänen ein Ende.
Der Ausschnitt aus den Aufzeichnungen Baron Manteuffels, der hier drei Jahre nach dem Abschluß der Niederschrift (1938) herausgegeben wird, umfaßt seine Wirksamkeit in Kurland, in der das Revolutionsjahr 1905 einen tiefen Umbruch herbeiführte. Grundlegend änderte sich seine Einstellung zum lettischen Volk, wenn er auch immer bereit blieb, Unterscheidungen zu machen und die ehrlich dem Deutschtum zugewandten Teile des Volkes in ihrer charakterlichen und politischen Haltung gelten zu lassen. Das Urteil über die Siedlungsmethoden ist offensichtlich durch persönliche Erfahrungen mit den staatlichen Siedlungsgesellschaften der Systemzeit bestimmt. Gerade auf diesem Gebiet ist der Wandel, der sich in unserem Volk dank den neuen Wertsetzungen des Nationalsozialismus vollzogen hat, besonders greifbar und spürbar, und niemand wird freudiger bereit sein, die großen siedlungspolitischen Erfolge, die sich im Osten anbahnen, zu würdigen, als der alte Vorkämpfer eines gesunden und straff geführten deutschen Bauerntums.
Was den Aufzeichnungen ihre lebendige Farbe gibt, ihr durchaus persönlicher Charakter, bedingt zugleich manche Einseitigkeit. In einem Brief an den Herausgeber hat der Verfasser sich mit folgenden Worten dazu bekannt:
"Willst du ohne Irrtum schreiben,
mindern nicht, noch übertreiben,
jede Einzelheit bedenken,
jedem recht tun, keinen kränken,
Freund, dann laß das Schreiben bleiben!"
Manteuffel-Katzdängen hat ein Recht dazu, über sein Lebenswerk gehört zu werden, und er darf erwarten, daß man aus seinen Worten herausspürt, was seinem Wirken die jugendstarke Schwungkraft lieh: die Liebe zu Deutschland.
Im Juli 1941. D. H.
1) K. Frhr. v. Manteuffel gen. Zoege-Katzdangen: Deutschland und der Osten, München-Berlin 1921.
2) Ders.: Erlebte Lieder. 2. verm. Auflage, München-Berlin 1938.
3) S. Brödrich hat über seine Siedlungsarbeit wiederholt berichtet, u. a. im Archiv für Innere Kolonisation 1915—1917. Vgl. K. Schulz: Der Deutsche Bauer im Baltikum, Berlin 1938.

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Ich bin Gott dankbar, viel erlebt zu haben. Nie habe ich ein beschauliches Dasein ersehnt, wie es meinem Großvater und Vater beschieden war, im stillen, engen Kurland, ausgefüllt von Landwirtschaft, Jagd, Familienereignissen und immer mehr entmachteter Landesführung, ein Leben, vielleicht zu Hause gesegnet und nach außen mit einigen Ehrenämtern gekrönt. Lieber wollte ich auf dem offenen Meere des Schicksals Sturm und Wellengang erleben; ich ahnte nicht, daß der Orkan des Weltkrieges mich so bald schon im Heimathafen selber erreichen und mein Lebensschiff zertrümmern würde. Und doch ziehe ich mein Schicksal auch heute noch einem ereignislosen Dasein vor. Freilich wäre es schöner gewesen, die Erdenreise als Habenichts zu beginnen und als Majoratsherr zu beschließen statt umgekehrt, und ebenso hätte ich es vorgezogen, das Vertrauen der Ritterschaft und ihre Zuneigung im Alter, wo ich sie auch mehr verdient hätte, zu genießen, anstatt in der Jugend, wo man so manches Geschenk des Schicksals nicht genügend zu schätzen weiß. Aber nicht jeder Lebensroman endet mit einem "Happy end"; man muß zufrieden sein, wenn er wenigstens spannend war.

Ich war erst kurze Zeit von der Deutschen Hochschule heimgekehrt, als die Freunde meines Großvaters mich, den in öffentlichen Angelegenheiten noch Unbewanderten, dem Lande schon etwas Entfremdeten, in den Landtag und auch dort gleich in den wichtigsten Ausschuß wählten. Durch sie bin ich dann bald, abermals ohne viel Verdienst, auch Kreismarschall geworden. Diese ehrenamtliche Stellung hatte auch mein Vater innegehabt. Sie entsprach ungefähr der eines preußischen Landrates. Wie leicht bezieht man solch ein Entgegenkommen auf die eigene Person, während es doch nur auf Gewohnheit und Überlieferung gegründet ist.
In jenen Jahren habe ich gerade von den älteren, oft so ehrwürdigen Herren der Ritterschaft so viel Vertrauen, so viel Nachsicht und Güte erlebt, daß spätere Erfahrungen mit Persönlichkeiten der Nachkriegszeit meine Dankbarkeit gegen die alte, vornehme und gerechte Ritterschaft nie auslöschen können. So wäre es mir auch schwer gefallen, das Vertrauen und die Hoffnungen jenes alten Katzdanger Freundeskreises zu enttäuschen, um so mehr, als ich damals gerade in seinem Sinne wirken konnte. In der Ritterschaft gab es zwei Parteien, die sich im Landtage bekämpften und in der Landesvertretung je nach de Wahlergebnissen ablösten, eine mehr völkische, die in grundsätzlicher Ablehnung alles Russischen und selbst auf Kosten augenblicklicher Vorteile vornehmlich für Deutschtum und Protestantismus eintrat, während sich die andere, gewiß auch deutsche, aber doch zeithörigere vor allem für Adel und Großgrundbesitz einsetzte und, um deren Belange zu wahren, vor den Russen zu deutschen Opfern bereit war, im ganzen also nüchterner und wirtschaftlicher, aber eigennütziger und auch junkerhafter dachte als jene erste Richtung, die fester zu ihren Grundsätzen, Hochzielen und Gemeinpflichten stand (Anm. 1). Auch sie betont das uns allen angeborene Treuegefühl gegen den Staat und vor allem gegen den Zaren, freilich mit dem Hinweis, daß wir dem russischen Reiche um so besser nützen könnten, je mehr wir deutsch blieben, da weltanschauliche Überläufer nichts taugten; ein Gedankengang, der den meist grundsatzlosen Russen wohl unverständlich blieb. Die Parteistellung des Einzelnen war vielfach nicht verstandesmäßig, sondern oft durch Gemütsart und Überlieferung bestimmt. So erschienen ganze Verwandtenkreise für immer der einen oder der anderen Richtung verschrieben; zuweilen aber wechselte die Einstellung, indem der Sohn nicht dem Vater, sondern dem Großvater in seiner Gesinnung folgte, wie es ja auch sonst zu beobachten ist, daß der Enkel eher dem Großvater als dem Vater gleicht, ja gleichen will. So war es auch in Katzdangen. Ich neigte von Jugend auf zur deutschbetonten Richtung meines Großvaters, und da nun deren Anhängerschaft mich für sich beanspruchte und auch zufällig für manche Stellung keinen älteren Anwärter hatte so konnte ich mich ihren Wünschen schon meiner Gesinnung wegen nicht entziehen.
Aber vor allem waren es gemeinnützige Aufgaben, die mich in Kurland festhielten. Ich hatte ja auf der Hochschule Sozialpolitik gehört und war nun glücklich, vieles, was ich dort gelernt hatte, sachlich zu erproben. Dazu kam die alte, schöne Katzdanger Überlieferung. Ich hatte meinen Großvater sehr lieb gehabt und wollte nun in seinem Sinne weiter wirken. Auch zwang mich die Pflicht, an manche alten Fäden anzuknüpfen. Da waren verdiente Beamte, die in meiner Abwesenheit zu Unrecht zurückgesetzt worden waren, bejahrte Arbeiter, die versorgt sein wollten, Bauern, die mir ihre Streitigkeiten sofort vertrauensvoll zur Schlichtung vortrugen. Ich sah manches Verfehlte, das gesühnt und ausgeglichen, manche Not, die behoben werden mußte; lag doch in diesem noch ganz urväterlich geordneten Lande so vieles beim Gutsbesitzer. Hier gab es noch keine Sozialgesetzgebung (Anm. 2), und ebenso war es verständlich, daß das Volk bei seinem mangelnden Vertrauen zu den russischen, ihm nach Sprache und Art fremden Beamten und Richtern sich an den ihm so viel näher stehenden Gutsherrn wandte. Vom frühen Morgen an drängten sich die Hilfe und Rat Suchenden vor meiner Tür. Es gab Tage, an denen ich über hundert von ihnen empfing. Zuweilen kamen auch große Abordnungen und, wenn ich mich endlich zu meinem arg verspäteten Mittagsmahl setzte, sah ich, wie sich schon wieder neue Ankömmlinge auf dem Schloßplatze sammelten.
Natürlich beging ich zunächst viele Fehler; ich war jung und unerfahren, und die Seele der Letten war mir zu fremd. Ich gehörte zu den vielen im Lande, die unter allen Umständen eine friedliche Lösung des Gegensatzes zu den Letten finden wollten. Die wir das lettische Volk, mit dem wir aufgewachsen waren und ohne das wir unsere Heimat und unsere Jugend nicht denken konnten, im Grunde des Herzens doch liebten, viel mehr liebten, als wir uns eingestehen mochten, wir alle wollten uns gerne jener Täuschung hingeben, daß die uns unverständlichen. Eigenschaften der Letten die Fehler des "kleinen Mannes", des uns sonst unbekannten Bauern schlechthin wären. Diese unsere einstige, auf dem Mangel an Vergleichsmöglichkeiten beruhende heimatliche Zuneigung zu den Letten findet sich auch noch im älteren baltischen Schrifttum. Wir kannten damals den unabänderlichen Unterschied der Rassen noch nicht, der hier freilich teilweise dadurch verdeckt war, daß sich unter den Letten viel deutsches Mischblut und verfettetes Deutschtum befindet, das dann doch wieder deutsche Wesensart aufweist und das Urteil über die Letten als Volk erschwert. Unter dem alles bedrohenden russischen Druck sahen viele das einzige Mittel, die deutsche Gesittung des Landes zu retten, in einer Verständigung mit den Letten und weitergehend in dem Versuch, sie "durch die Macht der Liebe" dem Deutschtum einzugliedern. Ob dies wünschenswert, ob es jemals möglich war, ist fraglich. Damals war es. jedenfalls schon zu spät, wie der Aufruhr von 1905 alsbald beweisen sollte, der allen solchen Hoffnungen ein jähes Ende setzte. Ein herbes Schicksal ließ diesen letzten Versuch deutschen Hochwillens scheitern.
Auch ich bin damals dieser falschen Hoffnung erlegen und habe ihr kostbare Jahre, viel Arbeit, Sorge und Liebe geopfert. Mir schien es richtiger, diese nächstliegende Aufgabe zu ergreifen, statt zur Rettung des Baltentums den weiten Weg über Berlin zu suchen. Ich vertrat meine Auffassung auch öffentlich, so. daß ich manchen Zeitgenossen, die meine deutschen Beweggründe nicht erkannten und die Begriffe "sozial" und "demokratisch" nicht auseinanderhielten, als "liberal" erschien.
Zunächst suchte ich die Verhältnisse auf meinen Gütern zu regeln, was bei der lettischen Artung nicht immer leicht war. Es war in meiner Abwesenheit viel Unehrlichkeit, Bestechung und Günstlingswirtschaft eingedrungen; überall gab es Verdächtigungen und bewußte Verleumdungen, stieß man auf Klüngel, die einander bitter befeindeten, dafür aber ihre Verwandten und Freunde arg begünstigten. Kaum war die eine Gruppe gestürzt, so bildeten ihre siegreichen Gegner eine neue, ebenso gefährliche. Ich bemühte mich, die schlechten Beamten durch bessere, selber ausgesuchte zu ersetzen und dem eingedrungenen Unwesen dadurch zu steuern, daß ich meine Tür allen offenhielt: jedermann wußte, man könne mir unter vier Augen alles sagen, und doch, wer vermag einem Menschen auf den Grund der Seele zu schauen, welcher Leiter eines größeren Unternehmens kann seiner Untergebenen ganz sicher sein! Dies gilt schon für Deutsche, hier aber handelte es sich um Letten, denn nur die obersten Beamten und die Handwerker waren Deutsche, alles andere jedoch Letten, die beim Rückgange der deutschen Bevölkerung immer mehr vordrangen. Ich hatte es mir zur Regel gemacht, lettische Angestellte nur aus meinem eigenen Gebiet zu nehmen und nach sorgfältiger Auslese allmählich aufsteigen zu lassen. So ist mancher Knecht Unterverwalter geworden. Begabtere junge Leute ließ ich auf meine Kosten Ackerbau, Viehzucht und Fischerei in Fachschulen erlernen und sandte auch einige zur Vollendung ihrer Ausbildung nach Deutschland. Durch hohe Gehälter, Sondervergütungen und reiche Geschenke, vor allem aber durch menschliche Beziehungen suchte ich sie an mich zu fesseln. Da ich nichts vom eigentlichen Ackerbau verstand, habe ich auf den Aufbau des Gesamtbetriebes, vor allem auf die Auswahl meiner Beamten um so mehr Zeit und Sorgfalt verwandt und schließlich auch manches erreicht. Viele meiner Angestellten waren nicht nur tüchtig, sondern auch durchaus zuverlässig. Katzdangen galt als ein Gut, auf dem nicht gestohlen wurde, was man nicht von vielen Gütern Kurlands sagen konnte, und ein von mir empfohlener Beamter war gewiß, überall eine gute Anstellung zu finden.
Es war selbstverständlich, daß die Beamten, deren Gehalt ebenso wie das der Knechte mit jedem Dienstjahre nach einem festgesetzten Satze stieg, im Alter Ruhegehälter, freie Wohnung und Versorgung von mir erhielten. Meinen Knechten hatte ich von vornherein neuzeitliche Wohnungen gebaut, schönere, als sie es anfangs verlangten. Ebenso schuf ich ein Altersheim für sie, zahlte ihnen Altersrenten und hatte schließlich eine Sozialversicherung auf allen Gebieten durchgeführt, die, freilich auf meine Kosten, ohne großen Beamtenkörper, dafür aber um so besser arbeitete.
In Katzdangen war schon immer ein Arzt vom Gute angestellt, der zu Zeiten meines Großvaters die ganze Gemeinde, später nur die Gutsleute unentgeltlich behandelte. Auch die Apotheke, die ebenso wie das Doktorhaus ihre letzte bauliche Form unter mir durch den vorzüglichen reichsdeutschen Künstler Reynier, einen Schüler Schultze-Naumburgs, erhalten hatte, war zunächst mit ihren sämtlichen Mitteln für alle Ortsbewohner frei. Später wurden für jede Arznei 20 Pfennig zugunsten der Armen erhoben, da mit den kostenlosen Heilmitteln Mißbrauch getrieben worden war. Neben der Arztwohnung errichtete ich ein Krankenhaus, wo jeder Katzdanger von einer geprüften Schwester unentgeltlich gepflegt werden konnte.
Aber noch mehr lag mir der Stand der lettischen Bauernhofbesitzer am Herzen. Mein Wirken in Katzdangen war vor allem auf eine Zusammenarbeit mit ihm und für ihn angelegt. Bei ihm war eine feste Überlieferung und staatserhaltende Gesinnung noch am ehesten zu erwarten; ihn zu stärken und zu heben, dem Deutschtum anzunähern und ihn mir und meinem Hause zu befreunden, erschien mir als vornehmste Pflicht, zugleich aber als Schutz gegen den drohenden Umsturz. Ich sagte mir, daß ein Land mit einer starken und gesunden Schicht kleiner Grundbesitzer keinen sozialdemokratischen oder gar kommunistischen Bestrebungen Baum biete. Das Jahr 1905 hat mich dann freilich bitter enttäuscht; denn, wenn die Bauern im allgemeinen auch nicht sozialistisch dachten, so mächten doch fast alle den Aufruhr aus nationalistischen Gründen mit. In der Erwägung, daß das Lettentum gesittungsmäßig nichts Selbständiges geleistet hatte, daß es rassisch ebensowenig als etwas Eigenes, sondern nur als Mischung zu verstehen war, habe ich die Macht des lettischen Volksbewußtseins unterschätzt. Immerhin konnte ein ernsthafter Versuch zu einer deutsch-lettischen Allnäherung, wenn überhaupt, nur beim Bauernstande einsetzen. Während die Beamten und Knechte einem gewissen Wechsel unterworfen blieben, bildeten die "Wirte" eine dauerhafte, bodenständige Schicht. Ihre Höfe waren seit Menschengedenken in den Händen derselben Geschlechter und würden es, so dachte ich, ebenso sicher bleiben wie Katzdangen in meiner Familie. Wenn überhaupt, so war nur mit ihnen eine bodenständige, auf Überlieferung fußende Freundschaft zu pflegen. So sorgte ich dafür, daß sie ihre Höfe hoben und selber vorankamen. Mein Großvater hatte manchen Bauernsohn auf seine Kosten auf die Hochschule geschickt; ich habe solche Unterstützungen freilich nur Deutschen zugewandt, denn zu meiner Zeit entwickelten sich lettische Hochschüler nicht mehr, wie früher, zu Deutschen, sondern meist zu nationalistischen, umstürzlerischen lettischen Führern. Aber als ein Bauernsohn durch die Schuld seiner Vormünder seinen Hof verlieren sollte, gab ich ihm, als er großjährig geworden war, doch gerne das Geld, alle Schulden zu bezahlen und seine Wirtschaft unter meiner Fürsorge neuaufzubauen. Wie meine eigenen Leute brachten auch die Bauernhofbesitzer ihre Beschwerden und Sorgen zu mir, und ich mußte sie bei Heiratsplänen, Familienzwisten und Rechtshändeln beraten. Ich hielt ihnen unentgeltlich Zuchttiere, suchte ihren Pferde- und Viehstand zu heben und ebenfalls ihre Anteilnahme für die eben erst durch meinen Vater in Kurland eingeführte Fischzucht zuwecken. Ich richtete Körungen und Wettbewerbe ein und war auf die Erfolge meiner Bauern stolzer als auf die meiner eigenen Wirtschaft. Ich sorgte auch für ihre Gärten, schenkte ihnen seltene Obstbäume, die ich bei der großen Anzahl der Empfänger immer zu Hunderten aus Deutschland bezog, und ein jeder von ihnen konnte in meinem Garten Ableger von Bäumen, Sträuchern und Blumen umsonst erhalten. Wie glücklich war ich, wenn sie davon Gebrauch machten. Als in einem an der Landstraße gelegenen Teile des Parkes immer wieder Bäumchen einer seltenen Art verschwanden, ließ ich am Sonntag von der Kanzel verkünden, daß ich den unbekannten Täter bäte, sich diese Pflanzen in besserem Zustande bei meinem Gärtner ohne Zahlung geben zu lassen, statt sich die Mühe des Ausreißens zu machen. Ich weiß nicht, ob der Baumliebhaber dieser Bitte nachkam; jedenfalls hörten die Diebstähle sofort auf. Als meine Bauern mich bei meiner Heimkehr aus dem russisch-japanischen Kriege feierlich und freudig empfingen, schenkte ich für jeden Bauernhof einen seltenen Baum, den ich in Kurland einführen wollte, und ließ für jeden Besitzer eine von einem der besten Künstler des Landes, Purvit, entworfene silberne Denkmünze prägen, die dann freilich von einigen ihrer dankbaren Inhaber in der Zeit der Deutschenhetze zu Beginn des Weltkrieges den Russen als Beweis meiner "Verräterei" vorgelegt wurde, weil mein Wappen auf ihr einen einköpfigen Adler zeigte, der als "Preußischer Adler" verdächtigt wurde. Das gleiche geschah damals auch an einer Kirche, die ich einer armen Gemeinde mit viel Liebe, ebenfalls durch Reynier, hatte erbauen lassen. An ihr war mein Wappen mit dem gleichen unheimlichen, in Wirklichkeit Zoegeschen Adler angebracht. Es wurde denn auch, kaum daß ich nach Wjatka verbannt war, von den um das russische Vaterland besorgten lettischen Eingepfarrten heruntergerissen.
Eine Reihe von Einrichtungen galt der ganzen Gemeinde, so das Teehaus, das an die Stelle der viel besuchten Katzdanger Hofschenke trat, die ich zu meinem geldlichen Schaden, aber zum großeren, sittlichen Nutzen der Gemeinde eingehen ließ. Hier konnte jedermann um ein Billiges Tee oder andere alkoholfreie Getränke erhalten. Hier lagen auch gute deutsche und lettische Zeitungen aus; es gab Brettspiele, und die von mir gestiftete reichhaltige deutsche und lettische Volksbücherei war im gleichen Hause untergebracht. Aus ihr konnten die Bücher gegen einen geringen, den Armen zufallenden Betrag entliehen werden. Nicht weit davon im Parke war die öffentliche Kegelbahn. Aber Kegeln war ein Spiel, das den Letten nicht lag und erst später von den deutschen Siedlern eifriger gepflegt wurde. Da die lettische Gemeinde ihre Armen sehr schlecht versorgte — der Lette ist darin hart —, erbaute ich ihr ein größeres, durch mich unterhaltenes Armenhaus, wo eine ältere Barmherzige Schwester die Alten pflegte, während eine jüngere das ebenfalls von mir errichtete Kinderheim betreute.
Es bot mir stets neue Anregung und Freude, die äußere und innere Gestaltung all dieser Gebäude ausführlich mit Sachverständigen zu beraten. Ich bestimmte selber jeden Anstrich, ließ die Möbel nach neuzeitlichen Vorbildern herstellen, hängte schöne Stiche und Holzschnitte hinein und brachte auch vom Schlosse manches gute Hausgerät, eine alte Standuhr oder eine edle Radierung mit. Baltische Künstler, von denen immer der eine oder der andere als Gast in Katzdangen weilte, berieten mich dabei bis in die Einzelheiten. Bei jeder Einweihung eines neuen Hauses, aber auch bei jedem Bilde, das ich anbrachte, empfand ich ein großes Glück.
Häufig besuchte ich die recht kläglichen lettischen Gemeindearmenhäuser und bemühte mich, soviel ich konnte, auch dort zu helfen. Zu Weihnächten brachte ich selber in jedes einen Baum mit mancherlei sorgfältig ausgesuchten Geschenken. Als ich, beraubt und vertrieben, die erste Weihnacht nicht mehr in Katzdangen weilte, sollen die armen Alten geweint haben, weil ihnen jetzt niemand mehr einen Baum schmücken werde. Auch meinen Beamten und Arbeitern bereitete ich Weihnachtsfeiern mit persönlich für jeden einzelnen ausgedachten Gaben, ebenfalls den Schulen, wo ich mehrere hundert Kinder beschenkte, den Krankenhäusern und Altersheimen. Weihnachten mit seinen vielen Bescherungen war für mich der Höhepunkt des Jahres. Die Vorbereitungen begannen bereits im Herbste, und kaum war der letzte Baum erloschen, so mußte man schon an das nächste Jahr denken.
Ich gab meine ganzen Einnahmen für diese gemeinnützigen Bestrebungen hin und mußte meine eigenen Bedürfnisse einschränken. Wo soziale Gesetzgebung fehlt, hat man alle Hände voll zu tun, für sie Ersatz zu schaffen. Es waren schöne Jahre.
Auch menschlich suchte ich meinen Katzdangern näher zu kommen. Ich kannte sie ja alle. Auf wie vielen Hochzeiten, bei wie vielen Beerdigungen bin ich gewesen, wie viele Kinder habe ich zur Taufe gehalten! Ich liebte die Einzelnen aufrichtig und glaubte wiedergeliebt zu werden. Ich hatte ihnen mein Herz gegeben voller Hoffnung auf Verständnis und Gegenliebe, so daß es schmerzlich ist, langer davon zu reden. Ich glaube nicht, daß von den vielen Letten, die ich einst so gut gekannt habe, denen ich Vater und Freund zu sein meinte, heute noch ein einziger meiner gedenkt. Als letzte Erinnerung an mich soll in einem neuen lettischen Museum in Riga eine schauerliche Knute gezeigt werden, "mit der", wie ein Zettel besage, "der Katzdangensche seine unglücklichen Untertanen zu züchtigen pflegte". Mit ihr bewaffnet werde ich wohl in die lettische Unsterblichkeit eingehen.
Gewiß habe ich viel geirrt, oft ungenügend, oft an falscher Stelle eingegriffen, bei manchem mag mich jugendliches Geltungsbedürfnis oder unreifer Betätigungsdrang geleitet haben; nicht alles geschah aus reiner Nächstenliebe, vieles aus dem Gedanken, die lettische Frage durch soziales Entgegenkommen zu losen. Die sittlichen Verdienste der Reichen werden leicht überschätzt. Es ist für sie im allgemeinen bequemer, sich in Kleinigkeiten großzügig und gütig als eng und hart zu zeigen, und schließlich geht man den einmal vielleicht zufällig gewählten Weg zwangsläufig weiter, schon aus Gewohnheit und aus Scheu, die beifällige Mitwelt zu enttäuschen. Im Verhältnis zu meiner Stellung als Majoratsherr und zu den mir dadurch obliegenden Verpflichtungen waren meine freiwilligen, gemeinnützigen Opfer ja nicht groß, eigentlich selbstverständlich, und ich hätte mich noch viel mehr im ganzen und einzelnen dieser Arbeit widmen sollen. Ich erwähne sie, um zu zeigen, daß doch auch echte Liebe und wirklicher Eifer dabei waren, ja mit der Zeit immer mehr in sie hineinkamen, und daß sie doch nicht die spätere haßerfüllte lettische Antwort verdient hat. Ich schreibe dies auch, um darauf hinzuweisen, daß ein guter Wille nicht nur mich, sondern die meisten unter uns Gutsbesitzern beseelte. Katzdangen ist nur ein Beispiel von vielen. Es gab im Lande Güter, die in ihrer Art ähnlich, vielleicht besser wirkten. Ich kann nicht über sie schreiben, weil ich nur Katzdangen genau kenne; aber überall suchte der baltische Gutsherr in väterlicher Weise für seine Leute zu sorgen, wenn auch ein so beglückendes Zusammenleben, wie es in Deutschland möglich, ja natürlich war, hier durch die Blutsverschiedenheit beeinträchtigt wurde. Güter, auf denen sich die Herrennicht um ihre Untergebenen kümmerten, gehörten zu den Ausnahmen. Das festzustellen, ist neben anderem ein Zweck dieser Schilderung, die, um ein lebenswahres Bild zu geben, auf Einzelheiten eingehen mußte.
Vor allem bemühte ich mich, im deutschen Sinne zu wirken. Wie ich auf die Gemeindeverwaltung und auf die Wahl ihrer Beamten einen staatserhaltenden und deutschfreundlichen Einfluß auszuüben suchte, so kümmerte ich mich auch um die Schulen, was zu manchen Zusammenstößen mit den jüngeren, zumeist umstürzlerischen und deutschfeindlichen Lehrern führte. Schließlich aber hatte ich es doch durchgesetzt, daß in allen Schulen meines Gebietes die deutsche Sprache, freilich nur als Nebenfach und selbstverständlich auf meine Kosten, gelehrt wurde. Wo ich konnte, sprach ich mit den Letten deutsch; in Katzdangen verstanden es sehr viele, besonders unter den Bauern. Sie lasen auch gerne die ihnen in der deutschen Abteilung der Bücherei dargebotenen Bücher und Zeitungen.
Diese deutsche Beeinflussung beschränkte sich nicht auf die unteren Schichten. Auch die bisher wenigen, aber an Zahl stets wachsenden lettischen Gebildeten sollten dem Deutschtum gewonnen werden. Sie standen ihm durch ihre Ausbildung auf den bislang deutschen Schulen und vielfach auch durch anerkannte oder mit Recht vermutete Ahnen oft näher als es schien und sie selber wahr haben wollten. Gerade sie für das Deutschtum zu gewinnen, erschien mir wertvoll. In dem kleinen Kreise der Künstler, die ich in Katzdangen den langen Sommer über als Gäste hatte, befanden sich auch mehrere lettischer Abkunft, unter ihnen der größte lettische Maler, Purvit, den ich nicht nur als Künstler, sondern auch als Menschen aufrichtig lieb gewann, sowie der junge litauische Maler Kalpokas, der jahrelang in Katzdangen lebte und den ich zu seiner Weiterbildung auch nach München sandte. Sie alle wuchsen unbewußt in deutsches Wesen hinein.
Meine gemeinnützigen Bestrebungen fanden Anklang, sie wurden nachgeahmt und gerade von den Letten auch in ihren Zeitungen oft und über Verdienst gepriesen; jedoch war ein dauernder Erfolg vor allem in deutscher Hinsicht kaum zu erwarten. Bei den damaligen Verhältnissen schien höchstens noch eine Erhaltung, nicht mehr eine Erweiterung des Deutschtums möglich. Es sollte sich bald zeigen, daß es leichter war, hundert deutsche Siedler anzusetzen, als nun noch einen einzigen Letten ganz einzudeutschen.
Aber schließlich ist ja alle meine damalige Arbeit scheinbar vergeblich gewesen. Bei allen ihren angeblichen Erfolgen wurde ich auch nie der leisen Gewissensbisse Herr, die mich mahnten, lieber nach Deutschland zurückzukehren, weil alle Mühe in Kurland doch umsonst sei.
Im Fernen Osten
So hatte ich gleich nach meiner Rückkehr aus Deutschland um die Entlassung aus dem russischen Staatsverbande nachgesucht, was mir aber auf Betreiben des kurländischen Gouverneurs abgeschlagen wurde. Das Oberhaupt der Provinz sah natürlich nicht gerne, daß ein baltischer Großgrundbesitzer die deutsche Staatsangehörigkeit erwarb. Im Jahre 1904 aber wurde der gefällige Fürst Swjatopolk-Mirski, zu dem ich Beziehungen hatte, Innenminister. Nun hätte ich mein Ziel wohl erreichen können. Da brach jedoch der russisch-japanische Krieg aus; Kurland schickte eine Abteilung des Roten Kreuzes als "Fliegende Kolonne" auf den Kriegsschauplatz in die Mandschurei und stellte einen älteren Baron Hahn und mich, die wir beide Johanniterritter waren, an die Spitze. Ich sagte mir — o menschliche Kurzsicht —, daß ich sonst wohl nie mehr einen Krieg mitmachen würde; zudem reizte es mich, Sibirien und die Mandschurei vielleicht bis zum Stillen Ozean kennenzulernen. Ich beschloß daher, der ehrenvollen Aufforderung zu folgen und ließ damit die Gelegenheit, aus dem russischen Staatsverbande auszutreten, ungenutzt vorübergehen. Doch möchte ich jenen Sommer, der mich durch die schier endlosen Ebenen Asiens nun wirklich bis zur Küste des Großen Ozeans führte, nicht missen. Besser als es mich je die Erdkunde lehren konnte, lernte ich den fast unfaßbaren, von den verschiedensten Völkern bewohnten russischen Raum verstehen und auch seinen Beherrscher, den uns in manchem geheim verwandten, großzügig sehnsuchtsvollen, gutmütig schwachen, durch Beinen mongolischen Einschlag aber auch listig rohen, in seiner Seele zerrissenen Russen.
Da wir als "Fliegende Kolonne" Verwundete vom Schlachtfelde aufzulesen hatten, bin ich dem Kriegsgeschehen stets nahegeblieben, mehrfach ins Feuer gekommen und habe schließlich das russische Georgskreuz erhalten, das sonst nur an Angehörige der fechtenden Truppe verliehen wurde. Es hat mir gute Dienste geleistet. Die Sitte verlangte, daß man das schwarzgelbe Bändchen ständig im Knopfloch trug, und wenn ich späterhin etwas bei russischen Behörden für die deutschen Belange durchsetzen wollte, fiel es mir als Träger dieses Kreuzes, das nicht nur als Zeichen von Tapferkeit, sondern auch von Staatstreue galt, wesentlich leichter.
Während meiner Abwesenheit war ich in Hasenpoth zum Kreismarschall gewählt worden. Ich kehrte daraufhin im Oktober 1904 vom Kriegsschauplatze zurück und wurde von der lettischen Bevölkerung mit lautem Jubel empfangen. Tausende waren gekommen, ihre Liebe und Treue zu bezeugen. Tief beglückt meinte ich darin die Früchte meiner Arbeit zu sehen, den Beweis, daß ich auf dem rechten Wege war, die lettische Frage durch Entgegenkommen zu lösen. Aber auch ich fühlte mich mit jedem einzelnen menschlich verbunden; jedem hätte ich wie im Liede der alte Herzog Rauschebart das Haupt in den Schoß gelegt. Es war der Höhepunkt meiner Arbeit an den Letten.

Doch kaum hatte ich mein Amt angetreten, als sich schon die ersten Vorboten des Aufruhrs von 1905 bemerkbar machten, der ganz Rußland erschüttern, vor allem aber in den Ostseelanden zu traurigen Ausbrüchen führen sollte. Der Kanonenschuß auf den Zaren bei der Wasserweihe Anfang 1905 war das erste Sturmzeichen. Dann folgten in ganz Rußland Arbeiterausstände, Brandstiftungen und Morde, die auch die Ostseeprovinzen nicht verschonten. Die Unruhen ergriffen auch, was kaum jemand für möglich gehalten hätte, Katzdangen. Schon der Frühling brachte mir die ersten, von fremden, meist jüdischen Hetzern angestifteten Arbeitseinstellungen. Sie schienen vornehmlich als Erkundungs versuche gedacht und wurden bald aufgegeben, hinterließen aber eine schwüle Stimmung. Dadurch, daß ich ihnen entgegentrat, und zudem auch als Kreismarschall allgemein für Ruhe und Ordnung sorgen mußte, verlor ich in kürzester Zeit den scheinbar so großen Schatz an Zuneigung, den ich mir beim lettischen Volke wie auch bei der lettischen Presse erworben hatte. Es kam ein böser Sommer mit täglichen Hiobsbotschaften aus allen Teilen des Landes von Zusammenrottungen, Überfällen und Morden. Katzdangen selber blieb zunächst unberührt; doch sah man allnächtlich mal hier, mal da am Himmelsrande den unheimlichen Feuerschein einer Brandstiftung auf einem Nachbargute. Im Spätherbste aber brach in ganz Katzdangen ein zweiter, von meinen eigenen Beamten geschürter, vierwöchiger "allgemeiner Streik" aus, bei dem Vieh und Pferde nur durch reitende Hilfsabteilungen ernährt werden konnten. Auch diesen Ausstand brachte ich scheinbar siegreich zum Erlöschen; dann aber, als ich im Vertrauen auf den nun geschlossenen Frieden nach Mitäu zum Landtage gefahren war, flammten neue, schlimmere Unruhen auf. Die Führung der ersten flach Kurland gesandten russischen Truppen versagte völlig. In einer dunklen Dezembernacht drang eine aufrührerische Bande ins Schloß und ermordete meinen treuen, deutschen Leibjäger. Der von mir erzogene Sohn meines verstorbenen lettischen Kutschers hatte ihnen die Tür geöffnet. Die aus Hasenpoth herbeigerufenen Dragoner "entwaffneten" auf Befehl ihres "liberalen" Rittmeisters die Bevölkerung, also, da die Anführer entflohen waren, meine letzten zuverlässigen Leute. Dann zogen die Soldaten ab. Das nun völlig schutzlose Schloß wurde gleich darauf wieder von den Aufständischen besetzt und in der Silvesternacht auf 1906 eingeäschert. In einer lettischen Kundmachung hieß es, man habe "dem Baron auch einmal einen Weihnachtsbaum anzünden wollen". Das Schloß brannte noch drei Tage. In seiner Asche wurde nicht nur eine lange, glückliche Vergangenheit, sondern auch jede auf der alten Grundlage erstrebte Zukunft begraben. Denn fast alle Letten hatten mich verraten, auch von meinen besonderen Freunden, den Bauernhofbesitzern, hatten sich nur wenige abseits gehalten, — für mich eingetreten war keiner.
Dieser Aufstand stellte das Deutschtum vor eine schwierige Frage. Es hätte dem Geiste der Ritterschaft entsprochen, den lettischen Banden mit der Waffe in der Hand zu begegnen. Das wäre jedoch staatsmännisch ein Fehler gewesen. Die russische, meist urteilslose öffentliche Meinung war seit langem durch die Presse sowie andere, lettische und liberale Brunnenvergiftung deutschfeindlich bearbeitet worden und gewohnt, in den Letten bedauernswerte Opfer deutscher Herrschsucht und Willkür zu sehen. Sie hätte sich, wären wir den Aufrührern bewaffnet entgegengetreten, sofort auf deren Seite gestellt, im günstigsten Falle hätte es geheißen: "Dort unten im Ostseegebiete bekämpfen sich zwei fremde Völker um ihrer eigenen Belange willen. Gott weiß, wer recht hat; am besten, wir unterdrücken sie beide!"  Wir mußten also der lettischen Aufstandsbewegung ausweichen und warten, bis sie ihr volles, aufrührerisches, nicht nur gegen das Deutschtum, sondern vor allem gegen Staat und bürgerliche Gesellschaft gerichtetes Gesicht zeigte. Auch hatten wir nun zu unserem Schmerz erkannt, wie schwach wir zahlenmäßig waren. So zogen wir uns zur großen Unzufriedenheit mancher Heißsporne in die Städte zurück und warteten auf den Zusammenstoß, der zwischen den Letten und der russischen Truppe über kurz oder lang unvermeidlich war. Er kam bald. Die Letten überfielen in Tuckum bei Nacht das ahnungslos schlafende Dragonerregiment der Kaiserin-Mutter und metzelten 28 Soldaten und auch den Oberst nieder. Diese vorzüglichen Dragoner hatten bei Beginn der Wirren in Katzdangen gestanden. Es war mir, der ich als Kreismarschall von Amts wegen der Trauerfeier für die Opfer in der russischen Kirche zu Mitau beiwohnte, ein furchtbarer Eindruck, jene mir so wohl bekannten Menschen gräßlich verstümmelt mit ausgestochenen Augen und aufgeschlitzten Nasen in ihren nach russischer Sitte offenen Särgen liegen zu sehen. Das Gesicht des Obersten war mit einem weißen Tuche verdeckt, offenbar, weil es von den Letten so zugerichtet war, daß es keinen menschenähnlichen Anblick mehr bot. Die grausigen Bilder wurden späterin der russischen Presse veröffentlicht, und nun begriff in Rußland jedermann, daß es sich um einen lettischen, gegen den Staat gerichteten Aufruhr handelte.
In Petersburg hatte die Regierung mittlerweile den Aufstand niedergeschlagen und ging nun mit ungewohnter Tatkraft daran, auch in Kurland reinen Tisch zu machen. Es war schmerzlich spät. Viele der Besten waren ermordet. Allein im Hasenpother Kreise waren 32 Gutshäuser von den Mordbrennern eingeäschert worden, bei mir auch noch das Puhnensche Haus, wo ich als Kind, solange mein Großvater in Katzdangen lebte, mit meinen Eltern gewohnt hatte. Katzdangen war eines der letzten Opfer gewesen. Unmittelbar darauf griffen die Truppen endlich ein, und bei ihren ersten Schüssen zerplatzte der Aufruhr wie eine trübe Seifenblase. Wieviel Blut hätte erspart werden können, wenn sich die russische Regierung früher ermannt hätte. Eine einzige, rechtzeitige Hinrichtung hätte Hunderten von Deutschen und Letten das Leben bewahrt. So trug die Schwäche der Regierung einen großen Teil der Schuld an unserem Unglück.
Auch jetzt wäre es staatsmännisch richtiger gewesen, sich von allen nun folgenden "Strafexpeditionen" möglichst fern zu halten. Ich erinnere mich noch, wie überzeugend der Führer der Ritterschaft uns Kreismarschällen darlegte, wir sollten nicht vergessen, daß wir mit den Letten noch Jahrhunderte zusammenzuleben hätten, daß wir also die Kluft zwischen ihnen und uns nicht vergrößern dürften, indem wir an den unvermeidlichen Strafmaßnahmen teilnähmen. Aber die umstände zwangen uns doch dazu. Bei der Geschicklichkeit der Letten in Verdächtigungen und Verleumdungen, denen die leichtgläubigen Russen nur zu schnell zum Opfer fielen, kam es dazu, daß gerade die zuverlässigen, den Gutsbesitzern treuen Menschen als Aufrührer angegeben und von den Soldaten ergriffen wurden, um erschossen zu werden. Wollten wir solche unerträgliche Ungerechtigkeiten, die sich aus dem Unverstände der Russen und der Hinterhältigkeit der Letten ergeben mußten, verhindern, wollten wir die aufständischen Kräfte wenigstens für einige Jahre unschädlich machen, so waren wir vor Gott und Menschen verpflichtet, den Russen bei der Wiederherstellung der Ordnung Hilfe zu leisten. Nur so ist es gelungen, den Aufruhr gerecht und erfolgreich zu unterdrücken. Aber die Kluft der Zwietracht zwischen Letten und Deutschen wurde dadurch noch vertieft und bei der Wesensart der Letten fast unüberbrückbar. Nun war eine Versöhnung, ein Zusammenarbeiten mit ihnen, zumindest für unser Zeitalter ausgeschlossen. Ebenso wie meine eigenen Bestrebungen erschienen jetzt auch alle ähnlichen Versuche aussichtslos. Die Macht der Verhältnisse hatte über alle weisen Vorsätze gesiegt.
Das Deutschtum war nun ganz auf sich gestellt. Mit einem Schlage waren wir uns unserer gefährdeten Lage bewußt geworden. In jedem Letten mußten wir einen Feind sehen. Wir hatten es an unserem Blut und Gut gefühlt, wie wenige wir waren, wie sehr unser Weiterleben in der Heimat nur noch von der zweifelhaften Duldung durch die russische Regierung abhing. Alles schien verloren bis auf den Glauben an uns selbst. Einige wenige verließen unter der drückenden Hoffnungslosigkeit jener Tage das Land, wohl in der Überzeugung, daß eine bleibende Rettung nur von Deutschland kommen könne. Die Zurückbleibenden, alle Lager und Stände, schlössen sich um so fester zusammen. Man ging an den Wiederaufbau wie an etwas Selbstverständliches. Auf die noch rauchende. Brandstätte Katzdangens wurden bereits die ersten Balken zum Neubau gefahren. Als ich meinem Vetter Recke nach der Zerstörung seiner alten Burg meine Teilnahme äußerte, erwiderte er: "Neuenburg ist in jedem Jahrhundert einmal abgebrannt". Niemand durfte am Lande verzweifeln. Die Ritterschaft sprach den Wegbleibenden öffentlich ihren Tadel aus.
Es war, als ob der Verlust ihres Eigentums die einzelnen Menschen gehoben hätte. Viel Kleines und Kleinliches, woran man gehangen hatte, war zugrunde gegangen. Statt dessen traten die größen Linien im Schicksale des Landes wie des einzelnen um so klarer hervor. Wer mochte an vernichtete Möbel oder ahnenbilder, an zerstörte persönliche Erinnerungen denken, nachdem er die grausige Gewalt der das Land und uns alle bedrohenden Schicksalsmächte erfahren hatte! Wir waren durch eine harte, eindrucksvolle Schule gegangen.
Erwachen des deutschen Gedankens
Es war auch die große Stunde des in uns allen klar erwachten völkischen Empfindens. Was jeder bisher für sich als selbstverständlich gepflegt und still geliebt hatte, das eroberte nun als laute, unbeschränkte Losung alle Herzen. Eine herrliche Zeit, da das ganze baltische Deutschtum, seiner einzigartigen, gottgegebenen Aufgabe bewußt, sich durch sie und für sie zusammenfand, um sich bis heute nicht mehr zu trennen. Glücklich, wer jene Tage miterleben durfte! Ich habe die Zerstörung Katzdangens mit seinen ehrwürdigen Erinnerungen und die Vernichtung aller meiner bisherigen Bestrebungen nicht mehr bedauert; wir alle haben die damaligen Opfer sowie den Bruch mit dem Lettentum und mit einer liebgewonnenen Vergangenheit gern getragen, weil uns dadurch etwas Neues, Höheres, die Einheit des Baltentums und ein großes deutsches Hochziel geschenkt wurde. Wir erkannten, daß wir nicht zum Frieden, sondern zum Kampf auf unseren Vorposten gestellt waren. Gott hatte uns durch die Not zu Selbstbesinnung und Selbsterstarkung zurückgeführt. Er zeigte uns auch Wege, unser Deutschtum nicht nur wie bisher dürftig zu erhalten, sondern es zu stärken und auszudehnen, Wege, die vielleicht zu einem Siege der deutschen Sache führen konnten, wenn es uns gelang, den lettisch-estnischen Bauernstand, die unglückliche Grundlage unseres baltischen Hauses, durch die deutsche Siedlung zu ersetzen. So ist mir der lettische Aufstand später als ein Segen erschienen, ich habe das alte Katzdangen für das Glück der Siedlung gern hingegeben. Es war die große Wende in der Geschichte des Landes und auch in meinem Schicksal, und wenn sie schließlich nicht das gebracht hat, was sie versprach, so bin ich doch Gott dankbar, diese Zeit der Kämpfe und der hoffnungsvollen Siedlungsarbeit miterlebt zu haben. Einst werden glücklichere Geschlechter unser Werk wieder aufnehmen und schöner beenden.
Damals opferte ich endgültig meine Zukunftspläne, die mich ins Auswärtige Amt nach Berlin gewiesen hatten. Es galt, meine nächstliegende Pflicht gegen das Land zu erfüllen, als Kreismarschall an der fortschreitenden Beruhigung mitzuarbeiten, als Majoratsherr die durch den Aufstand arg verwirrten Verhältnisse Katzdangens zu ordnen, das zerstörte Schloß wieder herzustellen (Anm. 3), vor allem aber als Deutscher in dieser Todesgefahr zu meinem Volke zu stehen, auf der mir von Gott zugewiesenen baltischen Warte den deutschen Kampf der Väter fortzuführen. Um so mehr, als sich gerade jetzt unverhoffte Aussichten auf eine entscheidende Rettung boten.
Die Regierung war durch die Volkserhebung, die sich über ganz Rußland erstreckt hatte, erschüttert worden und hatte allgemeine Zugeständnisse gemacht, die auch dem Deutschtum eine größere Duldung in Kirche und Schule brachten. Ihre starren Verrussungspläne schienen zunächst aufgegeben. In ganz Rußland wurde eine Art Verfassung eingeführt und für die Ostseeländer eine Selbstverwaltung vorgesehen, die uns auf allen Gebieten eine größere Betätigungsfreiheit zu bieten schien. Auch die staatserhaltenden Regierungskreise Petersburgs hatten den Wert des zarentreuen Deutschtums als Einsatz gegen die staatsfeindlichen, umstürzlerischen Letten schätzen gelernt und waren gewillt, ihm als dem kleineren Übel entgegenzukommen. Nur wenige Balten erkannten damals, daß jede freiere Gestaltung des russischen Staatswesens für uns die Gefahr in sich schloß, aus den Händen eines harten, aber immerhin geschichtlich vertrauten und gesellschaflich eher beeinflußbaren Despotismus in die unseres Todfeindes, des schonungslosen, lettischen Nationalismus zu fallen, vor dem uns dann kein Zar und kein Minister schützen konnte. Freilich erfaßten gerade die Älteren unter uns die unerbittliche Zeitwende nicht ganz und begrüßten hoffnungsvoll die flüchtige, uns nach dem lettischen Aufstande wieder umstrahlende Zarensonne; aber auch die Einsichtigeren hielten es für ihre Pflicht, die uns vom Schicksal noch gegönnte Frist voll zu nützen.
Zugleich mit unserer allgemeinen völkischen Erweckung war in Kurland auch ein neuer Menschenschlag ins öffentliche Leben getreten, aufgeschlossener, opferwilliger und deutscher, im ganzen auch weniger junkerhalt, als es die Zeitgenossen meines Vaters gewesen waren. Sie glichen eher den Freunden meines Großvaters. Woher kamen sie? Man hatte bislang nicht von ihnen gewußt, nun waren sie da, und ich erlebte staunend das unerwartete Heraufkommen eines abermals anders geprägten Geschlechtes, das wiederum für Kurland ein neues, deutscheres Zeitalter schuf (Anm. 4).
Mit diesen Menschen im öffentlichen Leben zu arbeiten, war mir ein Glück. Bisher hatte ich mich als Kreismarschall mehr als Vertreter einer bestimmten Richtung gefühlt, die mich ohne mein Verdienst gewählt hatte, und von der ich auch weiter abhängig war. Da erhielt ich mitten in den schlimmsten Tagen des Aufruhrs, im Trubel des Katzdanger Arbeiterausstandes, eines Morgens die Nachricht, daß zwei alte, hochangesehene Herren, auf deren politisches Wohlwollen ich bisher angewiesen war, in der vorhergehenden Nacht Hasenpoth überstürzt verlassen hätten, und mitten in der Unruhe der anderen sich überschlagenden, wirren Nachrichten überkam mich ein bisher unbekanntes Gefühl von Sicherheit und Glück, daß ich nunmehr der wirkliche Herr meines Kreises geworden war. Und noch in denselben Tagen fanden sich unerwartete Mitarbeiter, Männer jenes kommenden Zeitalters ein, denen ich auch dem Alter nach näher stand, wenngleich ich immer noch einer der Jüngsten blieb. Ihnen war ich Kreismarschall nicht nur wegen der Überlieferung, sondern als Vertreter der gleichen deutschen Gesinnung, die uns nun während des lettischen Aufstandes und nachher beim neuen Aufbau des Deutschtums bis zum Untergange Deutschkurlands unverbrüchlich einte, zur Herrschaft führte und auch zur Herrschaft befähigte. Auf jene Gesinnung allein kam es auch bei jedem einzelnen an. Der Beitrag an Begabung, an Bildung und Kraft war bei uns sehr unterschiedlich — ich habe den meinen nie sehr hoch eingeschätzt —, gewiß waren uns frühere Zeitalter in vielem überlegen, aber schon damals galt, wie jetzt im nationalsozialistischen Reiche, für uns alle das eine: Der deutsche Wille entscheidet.

Der Verein der Deutschen
Damals gründeten wir den "Verein der Deutschen in Kurland", der das ganze Deutschtum des Landes umfaßte und dessen Vorsitzer ich wurde. Zu diesem Vereine gehörten alle Deutschen, gleichviel welchen Standes. Man fragte auch nicht mehr, ob einer politisch rechts oder links eingestellt sei, sondern man war entweder russisch oder lettisch oder deutsch gesinnt. Und deutschgesinnt waren alle Balten. Auch in den beiden Schwesterprovinzen Livland und Estland waren gleichzeitig gleiche Verbände gegründet worden.
In diesen Vereinen fanden sich der Adel und die anderen gebildeten Stände mit den deutschen Handwerkern und später mit den einwandernden Siedlern zu aufopfernder Arbeit fürs Deutschtum. Vor allem, waren es die Pfarrer, die tapfer und treu für die deutsche Sache eintraten. Viele rührende Züge haben sich mir tief eingeprägt. So brachte ein junger Baron Hahn, der mit seiner Mutter auf einem kleinen Gute in beschränkten Verhältnissen lebte, mir vor Weihnachten 300 Rubel, die er und seine Mutter "im Laufe eines halben Jahres mit vielen, aber gern getragenen Opfern für den Deutschen Verein gespart" hätten. Ich denke auch an eine Handwerkerswitwe, die ihr ganzes Vermögen, 65 Rubel, dem Verein vermachte, oder an Schüler, die zu seinen Gunsten auf Ferienausflüge, an Kinder, die auf Weihnachtsgeschenke verzichteten.
Der Deutsche Verein war einfach aufgebaut und leicht zu leiten, weil sich ihm alle gleichmäßig opferwillig zur Verfügung stellten; es gab auch — ich habe dies später im Unterschiede zu anderen Vereinen im Reiche, deren Vorsitzer ich war, lebhaft empfunden — keine Ränke und keine Reibereien. Nie wieder habe ich solch ein einheitliches, beglückendes Zusammenleben gekannt. Wie gerne würde ich allen Mitarbeitern noch einmal einzeln danken! Damals hielt ich vieles für selbstverständlich und erkannte nicht genügend, wie gering mein eigener Anteil an allen Erfolgen war, wie wenig ich den Dank verdiente, den man mir gütig immer wieder spendete. Wie viele edle Menschen habe ich gerade im Gelehrtenstande gefunden, wie viele Freunde unter ihnen, denen ich nun erst durch die gemeinsame Arbeit verbunden wurde; war ich doch dadurch, daß ich die Hochschule in Deutschland und nicht in Dorpat besucht hatte, gerade ihnen anfänglich fremd gewesen.
Es bleibt das große Verdienst der drei baltischen Deutschen Vereine, daß sie in ihrem das ganze Deutschtum einenden Wirken auch den vor allem in Kurland bestehenden Standesgegensatz zwischen Adel und Literaten aufs schönste überbrückt haben. Dieser Gegensatz war wohl darauf zurückzuführen, daß sich der Literatenstand zu hoher Blüte, zu einer dem Adel gesittungsmäßig gleichwertigen Schicht entwickelt hatte und nun daraufhin an der vom Adel geschichtlich erworbenen Stellung teilhaben wollte, wie er es in Deutschland schon erreicht hatte. Das war verständlich, aber ebenso verständlich war es, daß der Adel die neue Lage nicht ohne weiteres anerkennen wollte. Die meisten gewaltsamen Umwälzungen entstehen ja nicht aus der Unterdrückung eines Standes, sondern daraus, daß sich die wirklichen Machtverhältnisse schneller ändern, als die Gesetze nachkommen können. Im damaligen Rußland fehlte der ausgleichende Einfluß einer weisen Regierung. So gesehen, wäre es falsch, auf der einen Seite von Adelsdünkel und Junkertum, auf der anderen von Adelshaß und Neid zu reden. Die veränderte Zeitlage, der Aufstieg des Literatenstandes hatte den Gegensatz geschaffen, und es ehrt beide, Adel und Bürgertum, daß sie ihn, sobald es sich um deutsche Belange handelte, zu vergessen verstanden. In den Deutschen Vereinen war er völlig ausgeschaltet, und durch sie verlor er bald auch im übrigen baltischen Leben an Bedeutung, um im späteren Heldenkampfe der Landeswehr ganz zu erlöschen. Dies war die andere große Wende, die sich damals vollzog.
Der Kampf gegen den russischen Druck hatte uns gehindert, die im raschen Aufstiege der Letten liegende Gefahr voll zu erkennen. Nun beanspruchte die Abwehr alle Kräfte, sie drängte die Ritterschaften immer mehr dazu, über ihre eigenen Belange hinaus die allgemein-deutschen zu verfechten. Die Standespolitik ging in Volkspolitik über. Je mehr sich aber die Tätigkeit der Ritterschaft zum Kampf gegen die russische und lettische Bedrohung erweiterte, um so mehr wollte und mußte das ganze Deutschtum an ihm teilnehmen. So wurden die Deutschen Vereine zwar nicht gesetzmäßige, aber durch ihren Einfluß auf die deutsche Einstellung doch wichtige Mitträger der Landesführung und spielten somit auch eine öffentliche Rolle.
Das Vorgehen des Vereins der Deutschen in Kurland ist öfter auch von deutscher Seite als zu unentwegt und schroff und damit als "unpolitisch" angegriffen worden. Eine zu starke Betonung des Deutschtums könne die Russen mißtrauisch machen, meinten jene anpassungswilligen Vertreter von Adel und Großgrundbesitz, die, wie wir sahen, eine Sicherung baltischer Belange wenigstens zum. Teil von einer Verständigung mit den staatserhaltenden Kräften des Zarenreiches erhofften. Da diese Richtung selbstverständlich bei Hofe und bei den Ministern beliebter und damit dort einflußreicher war als ihre weniger nachgiebigen Gegner, so wählten wir unsere amtlichen Vertreter mit Vorliebe aus ihren Reihen, obwohl sie die Minderheit waren. Nun aber schoben diese unsere Vertreter alle Mißerfolge ihrer an sich schon aussichtslosen Petersburger Bemühungen auf das "undiplomatische" Verhalten der Deutschen Vereine. Ich habe demgegenüber im kurländischen Landtage darauf hingewiesen, daß eine Einigung und Wachhaltung des Deutschtums ohne Stimmungsmache nicht möglich sei, daß, wer das Ziel wolle, die notwendigen Mittel nicht ablehnen dürfe, daß ein alle Volksklassen umfassender Verein hörbarer und rücksichtsloser vorgehen müsse als amtliche Vertreter, daß nicht alle Vereinsmitglieder schwächlich kühle Diplomaten seien und es auch nicht sein sollten, da sie sonst ihre ursprüngliche Kraft und ihren mitreißenden Einfluß verlieren und nichts erreichen würden, wie wir es überdies auch anderswo zu unserer Betrübnis sähen. Im übrigen aber suchte ich, solche Gegensätze, die sich aus verschiedener Wegewahl ergaben, möglichst auszugleichen und meine Mitkämpfer von nutzlosen Übertreibungen zurückzuhalten.
Der Deutsche Verein gründete in Stadt und Land Bürgerschulen vor allem für Mittelstand und Handwerkerkreise. Wir schufen deutsche Volksbüchereien, wandernde Bücherkisten und veranstalteten deutsche Abende und Vorträge.
Auch mit den Brudervereinen in Livland und Estland arbeiteten wir Hand in Hand. Gemeinsam mit ihnen wurde in Riga ein deutsches Handwerkerheim mit Fortbildungsschule gegründet, in Mitau ein vorbildliches Lehrerseminar erbaut. Alle diese Bestrebungen fanden vor allem in Kurland einen günstigen Boden, weil hier das Deutschtum auf dem Lande verhältnismäßig stärker als in den Nachbarprovinzen vertreten war. Um so verdienstvoller war die Arbeit der Brudervereine, an deren Spitze in Livland Landrat von Sivers-Römershof, in Estland sein Schwager Baron Eduard von Stackelberg standen. Sivers, ein einheitlich geschlossener Mann in des Wortes großer Bedeutung, stark und fest in seinem Wollen, oft schroff und starr in seinen Grundsätzen, aber immer seinem Hochziele treu, ist um Weihnachten 1918, nach dem deutschen Zusammenbruch von den Letten aus seinem Schlosse an der Düna vertrieben, in Libau an gebrochenem Herzen gestorben. Stackelberg, der Mann seiner edlen Schwester, weitgebildet, aufgeschlossener und besinnlicher, aber ebenso hochgemut, hat noch lange die deutsche Sache im Reiche verfochten. So waren sie Vorbilder des besten Baltentums. Ihnen beiden hätte die Würde eines Ehrendoktors, die mir die Breslauer Hochschule für meine Deutscharbeit jener Jahre verlieh, vor uns allen gebührt.

Die höheren Schulen freilich konnte der Deutsche Verein in Kurland nicht von sich aus begründen. Es war das stolze Vorrecht der Ritterschaft, sie zu errichten und mit großen Mitteln zu erhalten. Der Betrag, den der einzelne Gutsbesitzer für sie an "Willigungen" zahlte, war größer als alle seine Staatsabgaben, aber wir opferten ihn gern, und die beiden in Mitau und Goldingen von der kurländischen Ritterschaft errichteten Lateinschulen entsprachen mit ihrer vorzüglichen Lehrerschaft allen Erwartungen. Von nun an handelten die meisten Landtagsanträge von Bewilligungen für deutsche Belange. Über uns alle war unversehens ein neuer Geist gekommen, dem sich niemand entziehen konnte.
Dies alles war erst jetzt nach dem lettischen Aufstande möglich geworden; denn früher hätte die russische Regierung solche deutsche Bestrebungen nicht geduldet. Nun aber, da sie die Schwäche des Deutschtums erkannt und zudem eingesehen hatte, daß sie an ihm einen Schutz gegen die umstürzlerische Haltung der Letten besaß, war sie eher bereit, uns diese neuen Lebensregungen zu gestatten, ganz abgesehen davon, daß wir ohnedem aus der in Rußland nun allgemein gewährten größeren Freiheit Nutzen zogen.
Und doch blieben wir im großen gesehen Offiziere ohne Soldaten, und alle Aufopferung konnte unser Ziel, wenigstens den bisherigen Stand des Deutschtums zu halten, auf die Dauer nicht erfüllen. Ein alter Kreismarschall hatte mir einst für eine Rede das Bibelwort empfohlen: "Und stärket das andere, das sterben will." Aber gegen das unerbittliche Gesetz, daß die Städte, auf sich gestellt, aussterben und nur durch Zuwachs vom Lande erhalten werden, konnte der Deutsche Verein nicht ankämpfen. Das baltische Deutschtum saß größtenteils in Städten, während die Letten das offene Land bevölkerten und dadurch trotz schwacher Zunahme doch noch die städtische Bevölkerung an Geburtenzahl übertrafen. So mußte allein durch den Gang der Volksvermehrung die Stellung der Deutschen von Jahr zu Jahr geschwächt, die der Letten gestärkt werden. Die Lage des Deutschtums war auf die Dauer hoffnungslos, wenn es nicht gelang, etwas Neues ins Land zu rufen.
Das war die deutsche Siedlung. Sie allein konnte bleibende Rettung bringen. Ich habe einmal in einer Rede gesagt, daß ich mich als Vorsitzer des Deutschen Vereins wie der Befehlshaber einer belagerten Festung fühlte, die sich aufs tapferste gegen eine Übermacht wehre; trotzdem falle ein Bollwerk nach dem ändern, einmal werde die Festung doch vom Feinde genommen werden, wenn keine Hilfe von außen komme; und so könne es mir niemand verdenken, daß mein Herz bei den Fahnen des Entsatzheeres, bei der Siedlung sei. Von ihr vor allem soll auch hier die Rede sein. Sie wurde die Hoffnung aller zielbewußten Deutschen. Es war ein großgewollter, verzweifelter Versuch, dem Deutschtum noch in letzter Stunde die fehlende Grundlage zu schaffen und das Werk wieder aufzunehmen, das der Orden unvollendet hinterlassen hatte.
Anstoß zur Siedlung
Während die anderen Maßnahmen zur Erhaltung des Deutschtums vorausschauender Überlegung entsprangen, ist gerade die wichtigste, die Siedlung, mehr aus gottgegebenen Glücksfällen geboren worden. Nach dem Abzuge der russischen Truppen waren die Deutschen auf dem Lande schutzlos und, wenn der lettische Aufstand auch niedergeworfen war, doch allen möglichen Handstreichen ausgesetzt geblieben. Um sich zu sichern, hatte man die staatliche Schutzmannschaft durch einheimische, von der Ritterschaft unterhaltene deutsche Kräfte erheblich verstärkt und überdies aus Deutschland junge Leute angeworben, die meist als Hilfsjäger den Sicherheitsdienst auf dem Lande übernehmen sollten. Es waren ihrer nur wenige und, wie das bei solchen Anlässen verständlich ist, nicht immer die besten gekommen. Aber wir hatten zur Zeit niemand an ihre Stelle zu setzen. Als wir wieder einmal in Mitau über diesen "Selbstschutz" berieten, schlug Baron von der Recke-Durben vor, die Zahl dieser Jäger — es handelte sich um ein paar hundert — zu verdoppeln, und diese dann, wenn irgend möglich, mit deutschen Frauen zu verheiraten. Er führte aus, wie sehr das Deutschtum verstärkt werden könnte, wenn jeder von ihnen möglichst viele Kinder hätte. Das wäre aber doch unzureichend gewesen. Ich hatte zufällig von den deutschen Siedlern in Südrußland gehört. Ohne etwas Näheres über sie zu wissen, schlug ich vor, von dorther deutsche Kräfte heranzuziehen, die auch billiger sein würden als die kostspieligen Jäger aus Deutschland, deren Unterhalt dem durch den Aufruhr geschwächten Großgrundbesitz nicht leicht falle. Da gab es wiederum der Zufall, daß der Geschäftsführer der ökonomischen Gesellschaft, in deren Räumen diese Verhandlung statt-fand, Herr Boettcher, als junger Mensch in Wolhynien deutsche Siedler gekannt hatte. Er pflichtete meinem Gedanken bei und meinte, wenn er auch bisher nicht daran gedacht habe, so erscheine ihm das jetzt wirklich als eine große und gute Möglichkeit; er wolle sofort an einen ihm dort bekannten Pfarrer schreiben. Als wir wieder zusammenkamen, war die Antwort dieses Pastors, Althausen aus Rowno, bereits eingelaufen, glücklicherweise ein ausführlicher, klarer Brief, der uns alle in freudiges Erstaunen versetzte. Er schrieb, daß es in seiner Gemeinde viele Leute gebe, denen es schlecht gehe und die gern zu uns nach Kurland kämen. Er nannte auch ihre Arbeitslöhne, die weit geringer waren als die der Letten. Wir hatten bisher gemeint, daß deutsche Arbeiter zu hohe Ansprüche an unsere gedrückte Landwirtschaft stellen würden, und es erschien uns kaum glaublich, daß man den lettischen Arbeiter durch einen deutschen ersetzen könnte. Da wir immer die Verhältnisse im hoch entwickelten Deutschen Reiche vor Augen hatten, vermochten wir uns schlecht vorzustellen, daß es von Deutschen bewohnte Gegenden gebe, aus denen nach Kurland versetzt zu werden, für die dortigen Arbeiter ein außerordentlicher Glücksfall sein könne.

Über diese in Rußland allgemein als "Kolonisten" bezeichneten deutschen Bauern wußten wir damals noch wenig. Als erste hatte Katharina II. Schwaben aus Württemberg an der Wolga angesiedelt; dort hatten sie sich stark vermehrt, etwa auf ½ - ¾ Millionen. Sie hatten ihr Deutschtum, wie auch ihre schwäbische Art, unverfälscht erhalten, aber in der russischen Umgebung ihre Tüchtigkeit teilweise eingebüßt. Im besonderen war es für sie verderblich gewesen, daß sie die russische Ordnung des gemeinsamen Landbesitzes, den "Mir", angenommen hatten. Diese Einrichtung, wonach der gesamte Acker der Gemeinde gemeinsam zu eigen ist und in bestimmten Zeiträumen, bisweilen sogar alljährlich unter ihre männlichen Glieder durch das Los immer wieder neu verteilt wird, unterband jedes landwirtschaftliche Streben, jede Verbesserung des Ackers, wie jeden Fortschritt und führte bei wachsender Bevölkerung zu einer höchst unglücklichen Zersplitterung der Ackerfläche in immer kleinere Einzelstücke. Da diese Siedler längst keinen Acker mehr hinzukaufen, von dem vorhandenen aber auch nicht mehr leben konnten, so waren viele zu Heimarbeitern geworden und dadurch wenig tauglich für unsere baltische Landwirtschaft. Trotzdem sind später doch manche in unsere Ostseemark und auch zu mir gekommen. Sie waren rassisch reiner und in ihrem deutschen Wesen auch unverfälschter als viele der übrigen Siedler Rußlands; und wer von ihnen einmal tüchtig war, stand nach Gesinnung und Willen zumeist höher als jene anderen, vor allem, wenn er als Kind dem russischen Einflusse entrückt und in einer baltischen Schule erzogen war. Im ganzen aber haben die Wolgadeutschen für unsere Siedlung keine größere Bedeutung erlangt. Es war doch zu schwer, sie an andere Verhältnisse zu gewöhnen. Das gilt auch für Livland, wo Landrat von Sivers-Römershof seine Siedlung anfangs mit ihnen aufbauen wollte.
Auch in den übrigen deutschen Siedlungsgebieten des russischen Reichs, in Bessarabien, in Taurien und im Kaukasus traf man zuweilen Schwaben, die ihren dortigen Nachbardeutschen in der Regel überlegen waren, besonders treu ihr deutsches Wesen wahrten, ein starkes Stammesbewußtsein besaßen und mit einem gewissen Hochmut auf die anderen, von ihnen als "Kaschuben" bezeichneten, meist aus Norddeutschland eingewanderten Siedler herabsahen. Von allen deutschen Stämmen scheint sich der Schwabe am besten zur Siedlung zu eignen.
Die anderen Kolonisten Rußlands, die sich hauptsächlich auf Russisch-Polen, Wolhynien und Podolien verteilten, waren vielfach Nachkommen von Bauern, die der spätere Kanzler Hardenberg aus allen Teilen Deutschlands herbeigerufen hatte, als er das damals noch zu Preußen gehörige Warschauer Gebiet verwaltete. Auch sie hatten sich stark vermehrt, waren aber, als das sogenannte Königreich Polen russisch geworden war, von den Polen teilweise wieder verdrängt worden, vor allem, weil sie sich 1830 nicht am Aufstande gegen Rußland hatten beteiligen wollen. Immerhin waren noch große Teile von ihnen in Polen geblieben, viele auch als Arbeiter im heutigen Litzmannstadt (Umbenennung von uns. Der Verlag) und in anderen Großwerkgebieten, wo ebenfalls zahlreiche unternehmen in deutschen Händen waren. Auch von ihnen habe ich manche unter meinen Siedlern gehabt. Sie waren natürlich dem Ackerbau fremd geworden, aber ihre große Liebe zum Landleben und der glühende Wunsch, einmal eine eigene Scholle zu besitzen, ließen sie alle Schwierigkeiten überwinden. Die Städter und Großwerkarbeiter bildeten sich schneller zu Landwirten zurück, als man es sich in Deutschland gemeiniglich vorstellt. Die meisten der aus Polen verdrängten Kolonisten aber waren nach Wolhynien und Podolien weitergewandert. Sie hatten diese damals noch vielfach wüsten Landstriche im Auftrage der dortigen russischen und polnischen Gutsbesitzer erschlossen und dabei nicht unbedeutenden Eigenbesitz erworben, hatten aber auch vieljährige Pachtungen inne (Anm. 5). Weit hinaus zogen sich ihre langgestreckten Dörfer, die durch Ordnung und Reinlichkeit von deutscher Tüchtigkeit zeugten. Sie waren schließlich auf 4 bis 500000 Seelen angewachsen und hätten sich noch viel weiter ausgedehnt, wenn sich das erwachende russische und polnische Volksbewußtsein nicht auch hier allmählich gegen sie gewendet hätte. Kaufverträge, die als unantastbar galten, wurden für ungültig erklärt; Gutsbesitzer kündigten ihren Pächtern; wo Deutsche als Knechte dienten, wurden sie entlassen. So war bei ihrer trotz allem steigenden Volkszahl gerade damals in Wolhynien ein großer Überschuß an deutschen Kräften vorhanden, der sich unseren Bestrebungen darbot. Von dorther habe ich die meisten meiner Siedler genommen. Auch sie waren noch ganz deutsch, weniger durch bewußtes Volksgefühl als durch ihr den Russen fremdes Kirchenbekenntnis, das ihnen auch eine Vermischung mit jenen erschwerte. Viel mehr als Blut, Sprache und Sitte hatte ihr lutherischer Glaube sie deutsch erhalten. Ihre wenigen, über weite Landstrecken verteilten Pfarrer sorgten aufopfernd dafür, daß sie sich weder ihrer Kirche noch dem Deutschtum entfremdeten. Diese starke Kirchlichkeit der Kolonisten erleichterte später ihre Ansiedlung in Kurland; sie waren froh erstaunt, in ein durchweg evangelisches Land zu kommen, und unsere baltischen Geistlichen, die immer eine Stütze des Deutschtums gewesen sind, waren ebenfalls beglückt, ihre neben den lettischen klein erscheinenden deutschen Gemeinden durch die neuen Ankömmlinge aufzufüllen. Es gab in Wolhynien auch katholische Deutsche, wenn auch nur in beschränkter Zahl. Sie waren für uns nicht geeignet, denn sie hätten sich in unserem ausgesprochen lutherischen Lande nicht wohlgefühlt, hätten ohne Kirche in erreichbarer Nähe die Betreuung durch deutsche Seelsorger vermißt und wären leicht unter polnischen Einfluß gekommen, da die wenigen, in den kleinen polnischen und litauischen Gemeinden Kurlands wirkenden katholischen Geistlichen zumeist Polen waren. Ebensowenig habe ich Siedler genommen, die protestantischen Sekten angehörten, deren es in Wolhynien gar nicht so wenige gab. Denn auch für sie hätte ich die Hilfe unserer Pfarrer entbehren müssen. Die Baptisten, um die es sich vor allem handelte, hätten Anschluß bei den zahlreichen, ausgezeichneten lettischen Baptistengemeinden gesucht und wären somit leichter der Verlettung anheimgefallen. 

Reise nach Wolhynien
Alle diese uns nachmals so geläufigen Einzelfragen lagen noch im Schöße der Zukunft; aber auch das Allgemeine, das wir als Deutsche über unsere Stammesbrüder hätten wissen müssen, war uns zumeist unbekannt. Wir hatten weder gehört noch gelesen, daß sich noch im 19. Jahrhundert eine große deutsche Völkerwanderung nach Rußland vollzog, wobei es keine Entschuldigung ist, daß die deutsche Regierung ebensowenig von ihr wußte, geschweige denn sie in ihre Zukunftspläne einbezog. Das Wort Kolonist, das bald ganz Kurland beherrschen sollte, besagte uns, als wir mit Spannung den Brief des Rownoschen Pastors lasen, nur wenig. Die Herren unseres kleinen Ausschusses baten mich aber doch, gleich — es war im Februar 1906 — nach Wolhynien zu fahren. Ich nahm meinen Bevollmächtigten, Baron Simolin, und den meiner alten Tante, der Gräfin Medem-Grünhof, Herrn von Villon, mit, die also mit mir zu den drei Balten gehören, die als erste nach Wolhynien gefahren sind. Als wir nun an die Memel kamen, sagte ich im Scherz zu den Herren, unser Übergang werde hoffentlich mehr Erfolg haben als der Napoleons. Ich ahnte nicht, daß wir wirklich im Begriff waren, eine kleine Völkerwanderung anzubahnen, die rund 16000 Menschen nach Kurland bringen sollte und die, weiterwachsend, unabsehbare Erfolge hätte zeitigen können, wenn der Weltkrieg nicht dazwischen gekommen wäre.
Am Morgen nach unserer Ankunft in Rowno führte uns Pastor Althausen gleich in die deutsche Schule. Wir erhielten dort einen erschütternden Eindruck. Es war ein halbverfallenes, schlecht geheiztes Gebäude. Ein äußerlich wenig gehobelter Lehrer, der kaum mehr als lesen und schreiben konnte, unterrichtete eine große Schar ärmlich gekleideter, hungrig dreinblickender Kinder. Da drängte sich uns unwillkürlich der Vergleich mit den prächtigen Volksschulen in Kurland auf, die wir zumeist selber den Letten gebaut hatten, wo wohlgenährte, gut gekleidete Kinder in schönen, warmen Räumen von tüchtigen, fachlich vorgebildeten Lehrern unterrichtet wurden, und wir empfanden es wie ein Unrecht an diesen armen Kolonisten, daß wir den Letten und nicht ihnen jene Schulen geschenkt hatten. Wir sagten uns aber auch, daß wir diesen Leuten in der Tat eine Wohltat erweisen würden, wenn wir sie nach Kurland herüberriefen. Zu einer Versammlung, die wir bald darauf im Schulhause abhielten, fanden sich viele ebenfalls elend und vielfach auch kränklich aussehende Männer und Frauen ein, denen ich den Vorschlag machte, nach Kurland zu kommen. Sie hörten unsere guten, im Verhältnis zu ihrer damaligen Lage sehr vorteilhaften Lohnbedingungen, und ich konnte ohne Schwierigkeit noch in derselben Stunde die von mir gewünschten vierzig Arbeiter anwerben.
Gleichzeitig bat ich den Pfarrer, mir zwei sogenannte Küsterlehrer zu empfehlen, die zunächst die Übersiedlung leiten, später die Leute betreuen und zwischen ihnen und mir ein Verbindungsglied sein sollten. Diese für ihren Beruf ganz ungenügend vorgebildeten, in ihrem Wesenskern aber meist vorzüglichen Lehrer hatten in Wolhynien auch noch den Pfarrer zu vertreten, der bei den großen Entfernungen die einzelnen Gemeinden oft nur ein- bis zweimal im Jahre besuchen konnte. Sie hielten die sonntägliche Andacht, schlichteten Streitigkeiten und waren die Vertrauensmänner der Gemeinde wie auch der Einzelnen. Es waren fast immer zuverlässige, deutsch gesinnte Männer. Ihre mangelnde Schulung brachte es mit sich, daß ihnen mit der Halbbildung unserer lettischen Lehrer auch deren zersetzende Denkart fehlte. Sie waren echte Bauern, erdverbunden, volkstreu und gottesfürchtig und bewahrten diese ihre schlichte und klare Gesinnung auch in Kurland.
Im Gegensatz zu den Letten waren die Kolonisten unter sich meist einig und hatten mit Recht zu ihren Führern Vertrauen. Ihre Hauptforderungen waren Kirche und Schule, Wünsche, die ich nur zu gerne hörte; denn es war ja mein Bestreben, mit diesen Leuten unserem Deutschtum und unserer Kirche neues Blut zuzuführen. So sollten die in meine Dienste tretenden Küsterlehrer den Kolonisten an solchen Sonntagen, an denen in den Katzdanger Kirchen kein deutscher Gottesdienst stattfand, Bibel und Predigt vorlesen.
Schon am nächsten Tage fuhren wir zu Pfarrer Barth nach Nowograd-Wolynsk. Dort bot sich ein völlig anderes Bild. Der Pfarrer führte uns in eine verhältnismäßig wohlhabende Kolonie. Wir sahen reiche Gehöfte, gutes Vieh und auch besser gekleidete Menschen. Gradlinige, mit Obstbäumen bepflanzte Straßen wurden von den deutschen Niederlassungen, deren Wohnhäuser fast immer am Wege lagen, gesäumt. Wir besuchten etliche Bauern und erhielten den Eindruck von festgefügten, glücklichen Siedlungen. Als wir am Abend mit dem Pfarrer voller Bewunderung über unsere Eindrücke sprachen, meinte er, es sei das einzige Lebensziel aller Kolonisten, einmal einen eigenen Hof zu besitzen, und auch wir würden auf die Dauer deutsche Knechte nur bekommen, wenn wir ihnen die Aussicht auf eigenes Land eröffnen könnten. Überhaupt habe ein Heranziehen von Deutschen nach Kurland nur dann Zweck und Bestand, wenn man gleichzeitig versuche, einzelne von ihnen als Besitzer anzusiedeln. Dieser Gedanke berührte mich wunderbar neu. Man war so gewohnt, nur lettische Bauern in Kurland zu sehen, daß man sich deutsche an ihrer Stelle zuerst gar nicht denken konnte. Ich mußte immer wieder fragen, ob sich diese Bauern bei uns auch wirklich wohl fühlen würden; aber der Pfarrer wies mit Recht darauf hin, daß es der lettische Bauer im ganzen nicht schwerer habe als der wolhynische, daß der Boden in Kurland auch reich, die Höfe aber zumeist größer seien und daß alles, was uns hier an ihnen angezogen habe, ihre äußerliche Gepflegtheit, Sauberkeit und Ordnung, Eigenschaften seien, die die Kolonisten leicht in ihre neue Heimat übertragen würden. Er sehe also keinen Grund, warum diese Leute nicht ebensogut, ja nicht noch besser in Kurland vorwärtskommen sollten. Trotzdem fiel es mir schwer, mich in diese Vorstellung hineinzuleben, und beim Schlafengehen sagte ich noch zu Baron Simolin: "Wenn ich mir denke, daß ich hundert solche Deutsche in Katzdangen haben könnte, das wäre doch unsagbar schön". Ich habe später 3 bis 4000 Siedler auf meinen Gütern gehabt und fand dies noch immer zu wenig. Mit den Erfolgen wachsen die Wünsche.
Bei meiner Heimkehr kam ich in Mitau gerade zum Landtage zurecht. Ganz erfüllt von meinen Eindrücken hielt ich den Herren einen Vortrag über Wolhynien und über die Aussichten, die sich uns mit einer planmäßigen Siedlung eröffneten. Da die Kolonisten im Gegensatz zu den reichsdeutschen Jägern russische Untertanen seien, brauche man einen Einspruch der Regierung, selbst gegen eine größere Einwanderung, kaum zu befürchten. Es gelang mir, bei vielen Anteilnahme zu erregen. Wir wählten einen Ausschuß, der diese Frage weiter beraten sollte, an dessen Spitze mein Onkel, Graf Keyserling-Altenburg , gestellt wurde. Es war mir lieb, daß er nicht als rücksichtslos deutsch, sondern gegen die russischen Forderungen eher als nachgiebig galt. Auch dadurch erhielt unser Unternehmen für die Regierung ein unschuldigeres Aussehen. Indem ich aber selber die Geschäftsführung übernahm, blieben doch alle Entscheidungen in meiner Hand, um so mehr, als sich Keyserling im besten Sinne von mir beeinflussen ließ.
Das ganze Land wurde nun in Bezirke geteilt und an die Spitze eines jeden ein angesehener und deutschgesinnter Gutsbesitzer gesetzt, wenn möglich jemand, der auch selber Siedler in seine Dienste zu nehmen gedachte. An ihn sollten sich alle wenden, die in diesem Bezirke Kolonisten einstellen wollten, damit die Werbung einheitlich wäre und nicht einer dem anderen die Ankömmlinge ausspannte.
Nach Wolhynien sandten wir als unseren Vertreter den jungen Oberförster, W. Lackschewitz, der außerordentlich tüchtig, dabei taktvoll und für die Sache begeistert war. An ihn hatten die einzelnen Vertrauensmänner um Zuweisung von Siedlern zu schreiben. Er wiederum sollte die Knechte anwerben, sie zur Bahn bringen, allen bösen Ausstreuungen, denen die kindlich leichtgläubigen Leute, wie sich später zeigte, oft zum Opfer fielen, immer wieder entgegentreten und überhaupt von Kurland ein wahrheitsgetreues Bild entwerfen. Denn natürlich bestand auch umgekehrt die Gefahr, daß vielleicht durch zu gute Schilderungen gerade die Untüchtigen angezogen werden konnten, die dann die Kolonisten in Kurland und später, weil sie selber dort nicht vorwärtsgekommen waren, Kurland bei den Kolonisten in schlechten Ruf bringen würden.
Zur gleichen Zeit aber ging ich noch einen Schritt weiter. Wir gründeten in Mitau eine Kasse, aus der den Gutsherrn, die Kolonisten ansiedeln wollten, Hilfsgelder oder Darlehen gezahlt werden sollten. Sie war vornehmlich als Hauptbank gedacht, da in den einzelnen Kreisen mit der Zeit eigene Anstalten gleicher Art geschaffen werden sollten, was auch teilweise geschah.
Diese allgemeinen Einrichtungen haben nicht das gehalten, was ich von ihnen erhofft hatte. Die Gründe hingen mit Menschen, nicht mit der Gesamtlage zusammen. Ich kann mich um so mehr auf die Schilderung meiner eigenen Siedlung beschränken, als es mir auch hier nur darauf ankommen wird. Allgemeingültiges herauszuheben.
Ich begann sofort für die Siedler, die ja zuerst als Knechte kommen sollten, zwei Güter bereitzustellen. In Kurland fand jedes Jahr ein gewisser Arbeiterwechsel statt. Bei meinem verhältnismäßig großen Besitz war es deshalb leicht, einen Hof völlig zu räumen, indem ich die Knechte, die ich behalten wollte, in die auf meinen anderen Gütern freiwerdenden Stellen versetzte. Zudem entschloß ich mich noch, das nicht große Gut des Baron Simolin hinzuzukaufen, wo ich ja als neuer Besitzer keine Verpflichtungen gegen die lettischen Knechte hatte und alle Stellen für die erwarteten Deutschen freihalten konnte. Man tat damit eigentlich keinem Letten ein Leid an. Bei der schwachen, wenn auch den städtischen Balten immer noch überlegenen Vermehrung der lettischen Bevölkerung bestand ein gewisser Mangel an Arbeitskräften, und Entlassene fanden leicht neue Anstellung. Außerdem haftet der Lette nicht am Lande und zieht gern in die Stadt. Die Beamtenschaft blieb auf beiden Gütern zunächst lettisch; denn die Ankömmlinge kannten ja die kurländischen Verhältnisse noch nicht. Doch beschloß ich, die beiden mitkommenden Küsterlehrer bei mir Landwirtschaft lernen zu lassen, um auf diese Weise auch Gutsaufseher aus den Kolonisten zu erziehen, denen sich ihre Landsleute lieber fügen und die für diese auch mit mehr Verständnis sorgen würden. Das habe ich auch weiter so gehalten. Von nun an lernten jahraus jahrein je zwei, meist jüngere Küsterlehrer den Ackerbau in Katzdangen, wo sie zuerst als sogenannte Schildreiter — diese altertümliche Bezeichnung hatte sich dort für eine Art Unteraufseher noch erhalten — Dienst taten, um dann als Beamte und Verwalter auf meine verschiedenen Höfe verteilt zu werden. Später, als ich alle Stellen mit Deutschen besetzt hatte, kamen so von mir geschulte Beamte auch auf Nachbargüter.
Unter solchen Vorbereitungen rückte der Tag, an dem die Siedler kommen sollten, schnell heran. Da erhielt ich überraschend von den beiden neu verpflichteten Küsterlehrern einen gemeinsam verfaßten, erregten Brief, daß die angeworbenen Leute, durch irgendwelche, anscheinend von Letten ausgestreute Gerüchte abgeschreckt, nicht mehr kommen wollten. Ich hatte die Küsterlehrer durch eine günstige Anstellung gleich für mich gewonnen, und sie waren bereit, jenen Gerüchten entgegenzuwirken und, wenn nötig, neue Knechte anzuwerben. Ich schrieb ihnen zurück, sie möchten am besten zuerst selber nach Kurland kommen, womöglich noch andere mitbringen, um sich das Land anzusehen. Auf diese Weise meinte ich, am besten allen törichten Ausstreuungen zu begegnen. Die zwei Kundschafter kamen auch, es waren der Küsterlehrer Blueschke und sein Schwager, mein späterer Kutscher Wolter, die somit als erste Kolonisten den Boden Kurlands betreten haben. Da ich lettische Machenschaften fürchtete, holte ich sie selber von der Bahn ab und fuhr mit ihnen, wiewohl ich gerade erkrankt war, Schmerzen und hohes Fieber hatte, den ganzen Tag auf meinen Gütern umher, ohne sie einen Augenblick mit einem Letten allein zu lassen; denn ich war überzeugt, daß sonst neue Quertreibereien die Folge sein würden. Sie waren durch die kurländischen, Wolhynien doch sehr überlegenen Zustände tief beeindruckt. Ich aber war glücklich, als ich sie wieder zur Bahn gebracht hatte, und mich ins Krankenbett legen konnte. Diese Kundschafter waren gut ausgesuchte, ordentliche Leute; ihnen verdanke ich es, daß später alles wunschgemäß verlief.













Anmerkungen
Anmerkung 1
Die sich widerstrebenden Strömungen konnten kaum als "hie konservativ", "hie liberal" gekennzeichnet werden. Ihr Kampf ging seit Jahrzehnten um jene allständische Verfassung, die in bodenständigem, deutschem Sinne schon hei der Regelung der Bauernfrage geplant war, nun aber von der Regierung höchstens in der Form der russischen Selbstverwaltung, der sog. Semstvo, zu erlangen gewesen wäre. Diese aber wurde von der deutschen Gruppe nicht aus Beharrungsgründen abgelehnt, sondern in der Sorge, sie werde eine weitere Verrussung mit sich bringen, während ihre Befürworter wiederum nicht dem freiheitlichen Fortschritte zuliebe für sie eintraten, sondern weil sie sich von ihr für Verwaltung und Wirtschaft Vorteile versprachen und hierfür deutsche Belange zu opfern bereit waren. Eine allständische Verfassung war ursprünglich von denselben sog. baltischen Liberalen angestrebt worden, die später die Semstvo aus völkischen Gründen schroff ablehnten, während die russische Selbstverwaltung wiederum von Männern gefordert wurde, die einst als Konservative eine allständische Verfassung grundsätzlich bekämpft hatten. Mein Vetter N. M., damals Kreismarschall von Grobin, wollte mich, der ich eben ins Land gekommen war, zu seiner Gruppe bekehren, indem er mir mit Recht darlegte, daß diese ebenso deutsch und bodenständig denke wie ich, der ich aber doch auch die Belange von Großgrundbesitz und Adel wahren müsse, die ja bei uns mit Protestantismus und Deutschtum zusammengingen. "Aber", fragte ich, "wenn sich diese Belange doch einmal widerstreiten sollten, für welche würdest Du dann eintreten?" "Natürlich für die ersten", antwortete er. "Und ich", so schloß ich unser Gespräch, "selbstverständlich für die letzten".
Anmerkung 2
Das Fehlen jeglicher Sozialversicherung stellte die baltischen Gutsbesitzer vor mancherlei Aufgaben, die sie meist gern und oft schöner erfüllten, als es die gefühllose Staatsmaschine gekonnt hätte. Vor allem leisteten die baltischen Frauen in solcher Fürsorge Vorzügliches. Sie besaßen, wo Arzt und Apotheke fern waren, kleine Arzneischränkchen, verstanden sich auf ärztliche Hilfeleistung und Krankenpflege und waren überhaupt ihren untergebenen menschlich nahe. Wenn sie als Witwen oder "alte Tanten" in die Stadt zogen, setzten sie dort einzeln oder in gemeinnützigen Vereinen ihre hilfreiche Tätigkeit fort, die in jenen einfachen Verhältnissen jeder unpersönlichen, staatlichen Fürsorge überlegen, im wahren Sinne des Wortes wohltätig war.
Anmerkung 3
Genau einen Monat nach dem Brande begann ich den planvollen Wiederaufbau des Schlosses, als Zeichen, daß wir trotz allen lettischen Angriffen nicht an der deutschen Zukunft des Landes verzweifelten. Aber erst durch die gemeinsame künstlerische Arbeit mit Schultze-Naumburg, der jüngere bauliche Zutaten beseitigte und die alte, so schöne Anlage von 1800 noch schlichter und größer zu gestalten suchte, fand ich Freude an der Wiederherstellung, vor allem auch am inneren Ausbau des dem Schlosse benachbarten Kavalierhauses, das nun bis zu meiner Vertreibung aus Kurland mein Wohnsitz bleiben sollte. Durch meinen Auftrag an Schultze-Naumburg, der seinen Schüler Reynier mitbrachte, wurde der durch ihn wiedererweckte deutsche Klassizismus auch auf andere Güter und nach Mitau verpflanzt. Er war in Kurland kein Fremdling, sondern paßte aufs schönste zu unseren alten Bauten.
Damals wurde auch mein erstes Gedicht "Die Wacht im Ost" gedruckt und auf deutschen Veranstaltungen gesungen. Zu Zeiten meines Vaters wäre ein "Dichter" als Vertreter des Landes kaum tragbar gewesen: die Zeiten hatten sich gewandelt.
Anmerkung 4
Das empfand ich auch in meiner engeren Familie, wo sich mein Vetter Georg Manteuffel-Kapsehden hingebend an allen Bestrebungen des Deutschen Vereins und später auch an der Siedlung beteiligte. Mit ihm war ich politisch stets einig, was sich, als er Kreismarschall von Grobin geworden war, auf unseren Versammlungen wie auch im Landtage aufs schönste auswirkte. Durch seine einwandfreie Gesinnung, sein gastfreies, sehr deutsch betontes Haus wie durch seine menschliche Anteilnahme wurde er mir ein besonders lieber Mitstreiter.
Anmerkung 5
In der südlichen Ukraine waren sie auf Schwaben gestoßen, die, 30000 an der Zahl, ebenfalls von Katharina 1763 dort angesiedelt worden waren und unter Alexander II. auf 120000 Köpfe geschätzt wurden.

1) Der politische Gehalt des ritterschaftlichen Parteiwesens in den Ostseeprovinzen, das in Livland am stärksten ausgebildet war, ist nicht leicht zu fassen. Das oft angewandte Gegensatzpaar konservativ-liberal trifft das Verhältnis nicht. Daß sich die Meinungsverschiedenheiten hauptsächlich in der Frage der Taktik gegenüber der russischen Regierung entwickelten, ist natürlich. Im Grunde handelt es sich, jedenfalls bei den führenden Persönlichkeiten, um die Zugehörigkeit zu zeitgeschichtlich verschiedenen Haltungen: hier standen nebeneinander Männer einer in sich geschlossenen altertümlich-ständischen Welt und Vertreter der neuen nationalpolitischen Gesinnung. Daraus mußten sich viele Spannungen ergeben. - Die kurländischen Parteikämpfe sind wissenschaftlich noch gar nicht untersucht. Für Livland R.Wittram, "Meinungskämpfe im baltischen Deutschtum während der Reformepoche des 19. Jahrhunderts", Riga 1934.   D. H.
2) Über die Revolution von 1905/06 vgl.: Baltische Revolutionschronik 1905—06, in: Balt. Mschr. 1906 Bd. 61 und 1908 Bd. 65 und 66; [A. von Transehe-Roseneck], Die lettische Revolution, Bd. I/II, Berlin 19082; H. Comberg, Die Lettische Revolution von 1905/06 im Spiegel der reichsdeutschen Presse und Publizistik, Berlin 1940. Weiteres Schrifttum s. R.Wittram, Geschichte der baltischen Deutschen, Stuttgart/Berlin 1939, S. 209, Anm. 70. D. H.
3) Der "Verein der Deutschen in Kurland" wurde am 11. Juni 1906 gegründet. Vgl. A. Paucker, Der Verein der Deutschen in Kurland in: Jahrb. des halt. Deutschtums 1931. Vorausgegangen waren der ,,Deutsche Verein in Estland" (30. Sept. 1905) und der "Deutsche Verein in Livland" (10. Mai 1906). Vgl. auch E. F. Sommer, Einigungs-bestrebungen der Deutschen im Vorkriegs-Rußland (1905—1914), Leipzig 1940 (== Deutsche Schriften zur Landes- und Volksforschung Bd. 6) und die Besprechung von J. v. Hehn in der "Jomsburg", Jg. 5/1941, H. l, S. 114 ff. D. H.
4) Maximilian v. Sivers, geb. Dorpat 16. Okt. 1857, gest. Libau 9. Jan. 1919, Besitzer von Römershof und Winterfeld. 1898—1912 Livl. Landrat. Erster Vorsitzender des Deutschen Vereins in Livland. Geschichtlich bedeutend vor allem durch seine der Manteuffelschen gesinnungsverwandte Siedlungstätigkeit in Livland. D. H.
5) Eduard Baron Stackelberg, geb. Repnik, 6. Nov. 1867, auf Sutlem. Estl. Landrat, 1905—1914 Vorsitzender des Deutschen Vereins in Estland. 1915—1917 in sibirischer Verbannung. Vgl. sein geistvolles Erinnerungsbuch "Ein Leben im baltischen Kampf", München 1927. D. H.
6) Karl Baron v. d. Recke, geb. Schlockenbeck, 12. Januar 1861, gest. Durben, 17. Jan. 1907. Majoratsherr auf Durben und Schlockenbeck. D. H.
7) Johannes Boettcher, geb. Riga, 10. Juni 1863. Agronom, seit 1896 Sekretär der Kurl. Oekonomischen Gesellschaft, 1909 gleichzeitig Geschäftsführer d. Unfall-Versich.-Gesellschaft. D. H.
8) Ernst Althausen, geb. im Kaukasus, 13. März 1862, Stud. Dorpat 1882—87. Seit 1902 Pastor in Rowno (für die Kreise Ostrog, Dubno, Kremenetz). D. H.
9) S. die "Einführung" in Bd. I der Sammlung Georg Leibbrandt. Vgl. R. Gramer, Zur Bevölkerungsstatistik des Wolgadeutschtums. In: Auslandsdeutsche Volksforschung, l. Bd. 1937, S. 297 ff. Über Wolhynien vgl. Karasek-Lück, Die deutschen Siedlungen in Wolhynien, Flauen i. V. 1931; K. Lück, Deutsche Aufbaukräfte in der Entwicklung Polens (== Ostdeutsche Forschungen, Bd. I), 1934, S. 430ff. D. H.
10) Baron Oskar von Simolin, geb. Talsen, 26. Juni 1867. Besitzer von Perbohnen in Kurland. D. H.

11) Carl von Villon, geb. Bersebeck, 3. Febr. 1864, ermordet von den Bolschewisten 16. Jan. 1919. Besitzer von Bersebeck. D. H.
12) Johannes Barth, geb. Werro (Livland), 13. Sept. 1862, gest. Riga, 29. April 1916. Stud. Dorpat 1882—87, Pastor in Nowograd-Wolynsk, dann in Shitomir. D. H.
13) Artur Graf Keyserling, geb. Gaicken, 7. März 1847, gest. in Königsberg, Pr. Besitzer von Altenburg, später Grösen, Grobinscher Kreismarschall. D. H.
14) Werner Lackschewitz, geb. Rappin, 24. Sept. 1877. Oberförster, später Beamter in Riga. D. H

 

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