Es ist der Bericht eines einzelnen Mannes, der
als erster die Ansiedlung deutscher Bauern in Kurland betrieb und dieser
Aufgabe in beispielhafter Opferfreudigkeit lange Jahre hindurch sein
Einkommen, seine Zeit und seine ungeteilte Kraft widmete.
Karl Freiherr von Manteuffel
gen. Zoege ist 1872 in Kurland geboren als Sohn eines ritterlichen deutschen
Geschlechts, das, im 13. Jahrhundert eingewandert, seit dem Anfang des 14. im
Baltenland nachweisbar, im 17. Jahrhundert den Namen Manteuffel annahm. 1520
erwarb der Ahnherr Karl Soye durch Heirat Güter in Kurland, darunter das Gut Katzdangen,
das seitdem ununterbrochen im Besitz der Familie blieb; der Verfasser dieser
Aufzeichnungen besaß Katzdangen in dreizehnter Generation.
Der Großvater Manteuffel, geb.
1820, war kurländischer Landesbevollmächtigter, d. h. Führer der kurländischen
Ritterschaft; der Vater, geb. 1846, Kreismarschall von Hasenpoth, wie später
der Sohn. Die Großmutter väterlicherseits war eine Fürstin Lieven
aus dem bekannten 1826 gefürsteten kurländischen Geschlecht, das sich so oft
im russischen Staatsdienst ausgezeichnet hat. Mütterlicherseits ist Karl
Freiherr v. Manteuffel ein Urgroßsohn des Gouverneurs von
Livland Georg von Fölkersahm, mithin ein Großneffe des
livländischen Bauernreformers Hamilkar von Fölkersahm, des bedeutendsten
Staatsmannes, den das baltische Deutschtum im 19. Jahrhundert hervorgebracht
hat. Die Großmutter mütterlicherseits ist durch ihren Vater, den Kammerherrn
Alexander Walujew, zur Hälfte russischer Abstammung; der
russische Innenminister unter Alexander II., Graf P. A. Walujew,
war in doppelter Verwandtschaft Vetter und Onkel der Mutter Karl von Manteuffels.
Nach der Reifeprüfung am damals noch deutschen
Mitauer Gymnasium (1888) verbrachte Manteuffel mehrere Jahre in Deutschland,
zuerst bei den preußischen Manteuffels (dem späteren Herrenhausvorsitzenden,
Sohn des Ministerpräsidenten Otto von Manteuffel), dann in
Bonn zum Studium, das er 1899 mit der Erwerbung des Dr. phil. in Halle
abschloß. Große Reisen, die ihn u. a. nach Frankreich, Italien und England
führten, erweiterten seine Weltkenntnis. 1900 kehrte er nach Kurland zurück.
Entgegen seinen Jugendwünschen, die ihn in den auswärtigen Dienst des Reiches
wiesen, fand Karl von Manteuffel hier seine Lebensaufgabe.
"Ich wurde", sagt er selbst in seinen Erinnerungen, "der
Katzdangensche".
Der geschichtliche Wert dieser Aufzeichnungen
liegt in der ungewöhnlichen völkischen Leistung des Verfassers, von der sie
berichten, ihr Reiz in der ursprüng lichen und eigenwilligen Kraft der
Schilderung, die ihre Wirkung vor allem der Persönlichkeit des Verfassers
verdankt. Karl Freiherr von Manteuffel hat das Schicksal
vieler seiner baltischen Standesgenossen geteilt: 1905 wurde sein an
Erinnerungen reiches Schloß von den Revolutionären niedergebrannt; während
des Weltkrieges, 1915—1917, war er seiner deutschen Gesinnung wegen nach
Vjatka verbannt; 1919 hat er die Heimat verlassen, müssen und seinen großen
Besitz verloren. Aber ein unbeirrbarer Glaube an die deutsche Sendung im
Osten erhielt ihm das Feuer der Jugend. 1921 schrieb er die kleine Schrift "Deutschland
und der Osten" , die in drei Auflagen für den Gedanken der deutschen Ostsiedlung
warb, und früh schon bekannte er sich zur Bewegung Adolf Hitlers, die er als
ein göttliches Werkzeug zur Rettung Deutschlands begriff.
Die Persönlichkeit des
"Katzdangenschen", der zu den führenden Männern des untergegangenen
Kurland gehörte, hat einen echten und starken Ausdruck gefunden in
zahlreichen Gedichten, Liedern und Versen, in denen er Welt und Gott, Kunst
und Liebe, Volk und Heimat erlebte .
Manch eine Zeile, im Alter entstanden, zieht die Summe aus Einsichten und
Erfahrungen eines langen Lebens, das niemals sich selber gehörte: "Nur,
was ich verschenkt, vergeben, / Wurde mein für alle Zeit." Wie ein Motto
stehn in gewissem Sinne auch über seinem Siedlungswerk die Worte:
"Was ich besaß, das hab ich fortgegeben,
Ich gab mich selber hin,
Dies bleibt vom wunderreichen Leben
Mein einziger Gewinn."
Die volkspolitische Leistung Manteuffels,
der in einigen Jahren vor dem Weltkrieg auf seinen Gütern in Kurland rund
4000 deutsche Bauern ansiedelte, kann nur aus dem zeitgeschichtlichen
Zusammenhang richtig verstanden und gewürdigt werden. Dem baltischen
Deutschtum erstanden damals, nach den bösen Erfahrungen der Revolution von
1905, einzelne Siedlungspolitiker, die nur noch von der Schaffung eines
starken deutschen Bauernstandes die Rettung des Deutschtums der
.Ostseeprovinzen erwarteten. Was ihrem Wirken in der an Rückschlägen so
reichen deutschen Siedlungsgeschichte des Ostens für immer ihren Rang
sichert, ist der opferstolze und gefahrverachtende Wagemut, mit dem sie ans
Werk gingen, ein Erbteil alter Kolonialtradition. Neben dem Katzendangenschen
Manteuffel, der das Beispiel gab und mit seiner wahrhaft großen
Opferwilligkeit, seiner Uneigennützigkeit und Tatkraft ein Beispiel blieb,
wirkte in Kurland in großem Stil vor allem Silvio Brödrich-Kurmahlen. Sie und ihre Gesinnungsgenossen haben 1906 bis 1914 in
Kurland rund 135000 Morgen mit rund 15000 deutschen Bauern besiedelt. Livland
folgte in kleinerem Maßstab, während in Estland die alte Ungunst des Bodens
und des Klimas den Plänen der politischen Führer dieselben Schwierigkeiten
entgegensetzte, die schon immer dem Gedanken deutscher Bauernsiedlung im
Baltenland hindernd im Wege gestanden hatten.
Nur ein einheitlicher, zusammenfassender und
ausgleichender Wille, nur ein moderner volkspolitischer Aktivismus hätte
dieser Schwierigkeiten Herr zu werden vermocht. Während des Weltkrieges haben
die deutschen Ritterschaften des Baltenlandes einen großangelegten Versuch
unternommen, die Voraussetzungen für eine deutsche Bauernsiedlung zu
schaffen. In der Zeitfolge, wie die deutschen Truppen das Land befreiten und
besetzten, hat eine der alten deutschen ständischen Körperschaften nach der
andern ein Drittel ihres Landbesitzes freiwillig für die Ansiedlung deutscher
Bauern zur Verfügung gestellt. Vorangegangen war am 29. August 1915 der
kurländische Landtag. Der Zusammenbruch vom November 1918 machte all diesen
Plänen ein Ende.
Der Ausschnitt aus den Aufzeichnungen Baron Manteuffels,
der hier drei Jahre nach dem Abschluß der Niederschrift (1938) herausgegeben
wird, umfaßt seine Wirksamkeit in Kurland, in der das Revolutionsjahr 1905
einen tiefen Umbruch herbeiführte. Grundlegend änderte sich seine Einstellung
zum lettischen Volk, wenn er auch immer bereit blieb, Unterscheidungen zu
machen und die ehrlich dem Deutschtum zugewandten Teile des Volkes in ihrer
charakterlichen und politischen Haltung gelten zu lassen. Das Urteil über die
Siedlungsmethoden ist offensichtlich durch persönliche Erfahrungen mit den
staatlichen Siedlungsgesellschaften der Systemzeit bestimmt. Gerade auf
diesem Gebiet ist der Wandel, der sich in unserem Volk dank den neuen
Wertsetzungen des Nationalsozialismus vollzogen hat, besonders greifbar und
spürbar, und niemand wird freudiger bereit sein, die großen
siedlungspolitischen Erfolge, die sich im Osten anbahnen, zu würdigen, als
der alte Vorkämpfer eines gesunden und straff geführten deutschen Bauerntums.
Was den Aufzeichnungen ihre lebendige Farbe
gibt, ihr durchaus persönlicher Charakter, bedingt zugleich manche
Einseitigkeit. In einem Brief an den Herausgeber hat der Verfasser sich mit
folgenden Worten dazu bekannt:
"Willst du ohne Irrtum schreiben,
mindern nicht, noch übertreiben,
jede Einzelheit bedenken,
jedem recht tun, keinen kränken,
Freund, dann laß das Schreiben bleiben!"
Manteuffel-Katzdängen hat ein
Recht dazu, über sein Lebenswerk gehört zu werden, und er darf erwarten, daß
man aus seinen Worten herausspürt, was seinem Wirken die jugendstarke
Schwungkraft lieh: die Liebe zu Deutschland.
Im Juli 1941. D. H.
1) K. Frhr. v.
Manteuffel gen. Zoege-Katzdangen: Deutschland und der Osten, München-Berlin
1921.
2) Ders.: Erlebte Lieder. 2. verm. Auflage,
München-Berlin 1938.
3) S. Brödrich hat über seine Siedlungsarbeit
wiederholt berichtet, u. a. im Archiv für Innere Kolonisation 1915—1917. Vgl.
K. Schulz: Der Deutsche Bauer im Baltikum, Berlin 1938.
Ich bin Gott dankbar, viel erlebt zu haben. Nie
habe ich ein beschauliches Dasein ersehnt, wie es meinem Großvater und Vater
beschieden war, im stillen, engen Kurland, ausgefüllt von Landwirtschaft,
Jagd, Familienereignissen und immer mehr entmachteter Landesführung, ein
Leben, vielleicht zu Hause gesegnet und nach außen mit einigen Ehrenämtern
gekrönt. Lieber wollte ich auf dem offenen Meere des Schicksals Sturm und
Wellengang erleben; ich ahnte nicht, daß der Orkan des Weltkrieges mich so
bald schon im Heimathafen selber erreichen und mein Lebensschiff zertrümmern
würde. Und doch ziehe ich mein Schicksal auch heute noch einem ereignislosen
Dasein vor. Freilich wäre es schöner gewesen, die Erdenreise als Habenichts
zu beginnen und als Majoratsherr zu beschließen statt umgekehrt, und ebenso
hätte ich es vorgezogen, das Vertrauen der Ritterschaft und ihre Zuneigung im
Alter, wo ich sie auch mehr verdient hätte, zu genießen, anstatt in der
Jugend, wo man so manches Geschenk des Schicksals nicht genügend zu schätzen
weiß. Aber nicht jeder Lebensroman endet mit einem "Happy end"; man
muß zufrieden sein, wenn er wenigstens spannend war.
Ich war erst kurze Zeit von der Deutschen
Hochschule heimgekehrt, als die Freunde meines Großvaters mich, den in
öffentlichen Angelegenheiten noch Unbewanderten, dem Lande schon etwas
Entfremdeten, in den Landtag und auch dort gleich in den wichtigsten Ausschuß
wählten. Durch sie bin ich dann bald, abermals ohne viel Verdienst, auch
Kreismarschall geworden. Diese ehrenamtliche Stellung hatte auch mein Vater
innegehabt. Sie entsprach ungefähr der eines preußischen Landrates. Wie
leicht bezieht man solch ein Entgegenkommen auf die eigene Person, während es
doch nur auf Gewohnheit und Überlieferung gegründet ist.
In jenen Jahren habe ich gerade von den
älteren, oft so ehrwürdigen Herren der Ritterschaft so viel Vertrauen, so
viel Nachsicht und Güte erlebt, daß spätere Erfahrungen mit Persönlichkeiten
der Nachkriegszeit meine Dankbarkeit gegen die alte, vornehme und gerechte
Ritterschaft nie auslöschen können. So wäre es mir auch schwer gefallen, das
Vertrauen und die Hoffnungen jenes alten Katzdanger Freundeskreises zu
enttäuschen, um so mehr, als ich damals gerade in seinem Sinne wirken konnte.
In der Ritterschaft gab es zwei Parteien, die sich im Landtage bekämpften und
in der Landesvertretung je nach de Wahlergebnissen ablösten, eine mehr
völkische, die in grundsätzlicher Ablehnung alles Russischen und selbst auf
Kosten augenblicklicher Vorteile vornehmlich für Deutschtum und
Protestantismus eintrat, während sich die andere, gewiß auch deutsche, aber
doch zeithörigere vor allem für Adel und Großgrundbesitz einsetzte und, um
deren Belange zu wahren, vor den Russen zu deutschen Opfern bereit war , im ganzen also nüchterner und wirtschaftlicher, aber eigennütziger
und auch junkerhafter dachte als jene erste Richtung, die fester zu ihren
Grundsätzen, Hochzielen und Gemeinpflichten stand (Anm.
1). Auch sie betont das uns allen angeborene Treuegefühl gegen den Staat
und vor allem gegen den Zaren, freilich mit dem Hinweis, daß wir dem
russischen Reiche um so besser nützen könnten, je mehr wir deutsch blieben,
da weltanschauliche Überläufer nichts taugten; ein Gedankengang, der den
meist grundsatzlosen Russen wohl unverständlich blieb. Die Parteistellung des
Einzelnen war vielfach nicht verstandesmäßig, sondern oft durch Gemütsart und
Überlieferung bestimmt. So erschienen ganze Verwandtenkreise für immer der einen
oder der anderen Richtung verschrieben; zuweilen aber wechselte die
Einstellung, indem der Sohn nicht dem Vater, sondern dem Großvater in seiner
Gesinnung folgte, wie es ja auch sonst zu beobachten ist, daß der Enkel eher
dem Großvater als dem Vater gleicht, ja gleichen will. So war es auch in
Katzdangen. Ich neigte von Jugend auf zur deutschbetonten Richtung meines
Großvaters, und da nun deren Anhängerschaft mich für sich beanspruchte und
auch zufällig für manche Stellung keinen älteren Anwärter hatte so konnte ich
mich ihren Wünschen schon meiner Gesinnung wegen nicht entziehen.
Aber vor allem waren es gemeinnützige Aufgaben,
die mich in Kurland festhielten. Ich hatte ja auf der Hochschule
Sozialpolitik gehört und war nun glücklich, vieles, was ich dort gelernt
hatte, sachlich zu erproben. Dazu kam die alte, schöne Katzdanger
Überlieferung. Ich hatte meinen Großvater sehr lieb gehabt und wollte nun in
seinem Sinne weiter wirken. Auch zwang mich die Pflicht, an manche alten
Fäden anzuknüpfen. Da waren verdiente Beamte, die in meiner Abwesenheit zu
Unrecht zurückgesetzt worden waren, bejahrte Arbeiter, die versorgt sein
wollten, Bauern, die mir ihre Streitigkeiten sofort vertrauensvoll zur
Schlichtung vortrugen. Ich sah manches Verfehlte, das gesühnt und ausgeglichen,
manche Not, die behoben werden mußte; lag doch in diesem noch ganz
urväterlich geordneten Lande so vieles beim Gutsbesitzer. Hier gab es noch
keine Sozialgesetzgebung (Anm.
2), und ebenso war es verständlich, daß das Volk bei seinem mangelnden
Vertrauen zu den russischen, ihm nach Sprache und Art fremden Beamten und
Richtern sich an den ihm so viel näher stehenden Gutsherrn wandte. Vom frühen
Morgen an drängten sich die Hilfe und Rat Suchenden vor meiner Tür. Es gab
Tage, an denen ich über hundert von ihnen empfing. Zuweilen kamen auch große
Abordnungen und, wenn ich mich endlich zu meinem arg verspäteten Mittagsmahl
setzte, sah ich, wie sich schon wieder neue Ankömmlinge auf dem Schloßplatze
sammelten.
Natürlich beging ich zunächst viele Fehler; ich
war jung und unerfahren, und die Seele der Letten war mir zu fremd. Ich
gehörte zu den vielen im Lande, die unter allen Umständen eine friedliche Lösung
des Gegensatzes zu den Letten finden wollten. Die wir das lettische Volk, mit
dem wir aufgewachsen waren und ohne das wir unsere Heimat und unsere Jugend
nicht denken konnten, im Grunde des Herzens doch liebten, viel mehr liebten,
als wir uns eingestehen mochten, wir alle wollten uns gerne jener Täuschung
hingeben, daß die uns unverständlichen. Eigenschaften der Letten die Fehler
des "kleinen Mannes", des uns sonst unbekannten Bauern schlechthin
wären. Diese unsere einstige, auf dem Mangel an Vergleichsmöglichkeiten
beruhende heimatliche Zuneigung zu den Letten findet sich auch noch im
älteren baltischen Schrifttum. Wir kannten damals den unabänderlichen
Unterschied der Rassen noch nicht, der hier freilich teilweise dadurch
verdeckt war, daß sich unter den Letten viel deutsches Mischblut und
verfettetes Deutschtum befindet, das dann doch wieder deutsche Wesensart
aufweist und das Urteil über die Letten als Volk erschwert. Unter dem alles
bedrohenden russischen Druck sahen viele das einzige Mittel, die deutsche
Gesittung des Landes zu retten, in einer Verständigung mit den Letten und
weitergehend in dem Versuch, sie "durch die Macht der Liebe" dem
Deutschtum einzugliedern. Ob dies wünschenswert, ob es jemals möglich war,
ist fraglich. Damals war es. jedenfalls schon zu spät, wie der Aufruhr von
1905 alsbald beweisen sollte, der allen solchen Hoffnungen ein jähes Ende
setzte. Ein herbes Schicksal ließ diesen letzten Versuch deutschen
Hochwillens scheitern.
Auch ich bin damals dieser falschen Hoffnung
erlegen und habe ihr kostbare Jahre, viel Arbeit, Sorge und Liebe geopfert.
Mir schien es richtiger, diese nächstliegende Aufgabe zu ergreifen, statt zur
Rettung des Baltentums den weiten Weg über Berlin zu suchen. Ich vertrat
meine Auffassung auch öffentlich, so. daß ich manchen Zeitgenossen, die meine
deutschen Beweggründe nicht erkannten und die Begriffe "sozial" und
"demokratisch" nicht auseinanderhielten, als "liberal"
erschien.
Zunächst suchte ich die Verhältnisse auf meinen
Gütern zu regeln, was bei der lettischen Artung nicht immer leicht war. Es
war in meiner Abwesenheit viel Unehrlichkeit, Bestechung und
Günstlingswirtschaft eingedrungen; überall gab es Verdächtigungen und bewußte
Verleumdungen, stieß man auf Klüngel, die einander bitter befeindeten, dafür
aber ihre Verwandten und Freunde arg begünstigten. Kaum war die eine Gruppe
gestürzt, so bildeten ihre siegreichen Gegner eine neue, ebenso gefährliche.
Ich bemühte mich, die schlechten Beamten durch bessere, selber ausgesuchte zu
ersetzen und dem eingedrungenen Unwesen dadurch zu steuern, daß ich meine Tür
allen offenhielt: jedermann wußte, man könne mir unter vier Augen alles
sagen, und doch, wer vermag einem Menschen auf den Grund der Seele zu
schauen, welcher Leiter eines größeren Unternehmens kann seiner Untergebenen
ganz sicher sein! Dies gilt schon für Deutsche, hier aber handelte es sich um
Letten, denn nur die obersten Beamten und die Handwerker waren Deutsche,
alles andere jedoch Letten, die beim Rückgange der deutschen Bevölkerung
immer mehr vordrangen. Ich hatte es mir zur Regel gemacht, lettische
Angestellte nur aus meinem eigenen Gebiet zu nehmen und nach sorgfältiger
Auslese allmählich aufsteigen zu lassen. So ist mancher Knecht Unterverwalter
geworden. Begabtere junge Leute ließ ich auf meine Kosten Ackerbau, Viehzucht
und Fischerei in Fachschulen erlernen und sandte auch einige zur Vollendung
ihrer Ausbildung nach Deutschland. Durch hohe Gehälter, Sondervergütungen und
reiche Geschenke, vor allem aber durch menschliche Beziehungen suchte ich sie
an mich zu fesseln. Da ich nichts vom eigentlichen Ackerbau verstand, habe
ich auf den Aufbau des Gesamtbetriebes, vor allem auf die Auswahl meiner
Beamten um so mehr Zeit und Sorgfalt verwandt und schließlich auch manches
erreicht. Viele meiner Angestellten waren nicht nur tüchtig, sondern auch
durchaus zuverlässig. Katzdangen galt als ein Gut, auf dem nicht gestohlen
wurde, was man nicht von vielen Gütern Kurlands sagen konnte, und ein von mir
empfohlener Beamter war gewiß, überall eine gute Anstellung zu finden.
Es war selbstverständlich, daß die Beamten,
deren Gehalt ebenso wie das der Knechte mit jedem Dienstjahre nach einem
festgesetzten Satze stieg, im Alter Ruhegehälter, freie Wohnung und
Versorgung von mir erhielten. Meinen Knechten hatte ich von vornherein
neuzeitliche Wohnungen gebaut, schönere, als sie es anfangs verlangten.
Ebenso schuf ich ein Altersheim für sie, zahlte ihnen Altersrenten und hatte
schließlich eine Sozialversicherung auf allen Gebieten durchgeführt, die,
freilich auf meine Kosten, ohne großen Beamtenkörper, dafür aber um so besser
arbeitete.
In Katzdangen war schon immer ein Arzt vom Gute
angestellt, der zu Zeiten meines Großvaters die ganze Gemeinde, später nur
die Gutsleute unentgeltlich behandelte. Auch die Apotheke, die ebenso wie das
Doktorhaus ihre letzte bauliche Form unter mir durch den vorzüglichen
reichsdeutschen Künstler Reynier, einen Schüler Schultze-Naumburgs,
erhalten hatte, war zunächst mit ihren sämtlichen Mitteln für alle
Ortsbewohner frei. Später wurden für jede Arznei 20 Pfennig zugunsten der
Armen erhoben, da mit den kostenlosen Heilmitteln Mißbrauch getrieben worden
war. Neben der Arztwohnung errichtete ich ein Krankenhaus, wo jeder
Katzdanger von einer geprüften Schwester unentgeltlich gepflegt werden konnte.
Aber noch mehr lag mir der Stand der lettischen
Bauernhofbesitzer am Herzen. Mein Wirken in Katzdangen war vor allem auf eine
Zusammenarbeit mit ihm und für ihn angelegt. Bei ihm war eine feste
Überlieferung und staatserhaltende Gesinnung noch am ehesten zu erwarten; ihn
zu stärken und zu heben, dem Deutschtum anzunähern und ihn mir und meinem
Hause zu befreunden, erschien mir als vornehmste Pflicht, zugleich aber als
Schutz gegen den drohenden Umsturz. Ich sagte mir, daß ein Land mit einer
starken und gesunden Schicht kleiner Grundbesitzer keinen
sozialdemokratischen oder gar kommunistischen Bestrebungen Baum biete. Das
Jahr 1905 hat mich dann freilich bitter enttäuscht; denn, wenn die Bauern im
allgemeinen auch nicht sozialistisch dachten, so mächten doch fast alle den
Aufruhr aus nationalistischen Gründen mit. In der Erwägung, daß das Lettentum
gesittungsmäßig nichts Selbständiges geleistet hatte, daß es rassisch
ebensowenig als etwas Eigenes, sondern nur als Mischung zu verstehen war,
habe ich die Macht des lettischen Volksbewußtseins unterschätzt. Immerhin
konnte ein ernsthafter Versuch zu einer deutsch-lettischen Allnäherung, wenn
überhaupt, nur beim Bauernstande einsetzen. Während die Beamten und Knechte
einem gewissen Wechsel unterworfen blieben, bildeten die "Wirte"
eine dauerhafte, bodenständige Schicht. Ihre Höfe waren seit Menschengedenken
in den Händen derselben Geschlechter und würden es, so dachte ich, ebenso
sicher bleiben wie Katzdangen in meiner Familie. Wenn überhaupt, so war nur
mit ihnen eine bodenständige, auf Überlieferung fußende Freundschaft zu
pflegen. So sorgte ich dafür, daß sie ihre Höfe hoben und selber vorankamen.
Mein Großvater hatte manchen Bauernsohn auf seine Kosten auf die Hochschule
geschickt; ich habe solche Unterstützungen freilich nur Deutschen zugewandt,
denn zu meiner Zeit entwickelten sich lettische Hochschüler nicht mehr, wie
früher, zu Deutschen, sondern meist zu nationalistischen, umstürzlerischen
lettischen Führern. Aber als ein Bauernsohn durch die Schuld seiner Vormünder
seinen Hof verlieren sollte, gab ich ihm, als er großjährig geworden war,
doch gerne das Geld, alle Schulden zu bezahlen und seine Wirtschaft unter
meiner Fürsorge neuaufzubauen. Wie meine eigenen Leute brachten auch die
Bauernhofbesitzer ihre Beschwerden und Sorgen zu mir, und ich mußte sie bei
Heiratsplänen, Familienzwisten und Rechtshändeln beraten. Ich hielt ihnen
unentgeltlich Zuchttiere, suchte ihren Pferde- und Viehstand zu heben und
ebenfalls ihre Anteilnahme für die eben erst durch meinen Vater in Kurland
eingeführte Fischzucht zuwecken. Ich richtete Körungen und Wettbewerbe ein
und war auf die Erfolge meiner Bauern stolzer als auf die meiner eigenen
Wirtschaft. Ich sorgte auch für ihre Gärten, schenkte ihnen seltene
Obstbäume, die ich bei der großen Anzahl der Empfänger immer zu Hunderten aus
Deutschland bezog, und ein jeder von ihnen konnte in meinem Garten Ableger
von Bäumen, Sträuchern und Blumen umsonst erhalten. Wie glücklich war ich,
wenn sie davon Gebrauch machten. Als in einem an der Landstraße gelegenen
Teile des Parkes immer wieder Bäumchen einer seltenen Art verschwanden, ließ
ich am Sonntag von der Kanzel verkünden, daß ich den unbekannten Täter bäte,
sich diese Pflanzen in besserem Zustande bei meinem Gärtner ohne Zahlung geben
zu lassen, statt sich die Mühe des Ausreißens zu machen. Ich weiß nicht, ob
der Baumliebhaber dieser Bitte nachkam; jedenfalls hörten die Diebstähle
sofort auf. Als meine Bauern mich bei meiner Heimkehr aus dem
russisch-japanischen Kriege feierlich und freudig empfingen, schenkte ich für
jeden Bauernhof einen seltenen Baum, den ich in Kurland einführen wollte, und
ließ für jeden Besitzer eine von einem der besten Künstler des Landes, Purvit,
entworfene silberne Denkmünze prägen, die dann freilich von einigen ihrer
dankbaren Inhaber in der Zeit der Deutschenhetze zu Beginn des Weltkrieges
den Russen als Beweis meiner "Verräterei" vorgelegt wurde, weil
mein Wappen auf ihr einen einköpfigen Adler zeigte, der als "Preußischer
Adler" verdächtigt wurde. Das gleiche geschah damals auch an einer
Kirche, die ich einer armen Gemeinde mit viel Liebe, ebenfalls durch Reynier,
hatte erbauen lassen. An ihr war mein Wappen mit dem gleichen unheimlichen,
in Wirklichkeit Zoegeschen Adler angebracht. Es wurde denn auch, kaum daß ich
nach Wjatka verbannt war, von den um das russische Vaterland besorgten
lettischen Eingepfarrten heruntergerissen.
Eine Reihe von Einrichtungen galt der ganzen
Gemeinde, so das Teehaus, das an die Stelle der viel besuchten Katzdanger
Hofschenke trat, die ich zu meinem geldlichen Schaden, aber zum großeren,
sittlichen Nutzen der Gemeinde eingehen ließ. Hier konnte jedermann um ein
Billiges Tee oder andere alkoholfreie Getränke erhalten. Hier lagen auch gute
deutsche und lettische Zeitungen aus; es gab Brettspiele, und die von mir
gestiftete reichhaltige deutsche und lettische Volksbücherei war im gleichen
Hause untergebracht. Aus ihr konnten die Bücher gegen einen geringen, den
Armen zufallenden Betrag entliehen werden. Nicht weit davon im Parke war die
öffentliche Kegelbahn. Aber Kegeln war ein Spiel, das den Letten nicht lag
und erst später von den deutschen Siedlern eifriger gepflegt wurde. Da die
lettische Gemeinde ihre Armen sehr schlecht versorgte — der Lette ist darin
hart —, erbaute ich ihr ein größeres, durch mich unterhaltenes Armenhaus, wo
eine ältere Barmherzige Schwester die Alten pflegte, während eine jüngere das
ebenfalls von mir errichtete Kinderheim betreute.
Es bot mir stets neue Anregung und Freude, die
äußere und innere Gestaltung all dieser Gebäude ausführlich mit
Sachverständigen zu beraten. Ich bestimmte selber jeden Anstrich, ließ die
Möbel nach neuzeitlichen Vorbildern herstellen, hängte schöne Stiche und
Holzschnitte hinein und brachte auch vom Schlosse manches gute Hausgerät,
eine alte Standuhr oder eine edle Radierung mit. Baltische Künstler, von
denen immer der eine oder der andere als Gast in Katzdangen weilte, berieten
mich dabei bis in die Einzelheiten. Bei jeder Einweihung eines neuen Hauses,
aber auch bei jedem Bilde, das ich anbrachte, empfand ich ein großes Glück.
Häufig besuchte ich die recht kläglichen
lettischen Gemeindearmenhäuser und bemühte mich, soviel ich konnte, auch dort
zu helfen. Zu Weihnächten brachte ich selber in jedes einen Baum mit
mancherlei sorgfältig ausgesuchten Geschenken. Als ich, beraubt und
vertrieben, die erste Weihnacht nicht mehr in Katzdangen weilte, sollen die
armen Alten geweint haben, weil ihnen jetzt niemand mehr einen Baum schmücken
werde. Auch meinen Beamten und Arbeitern bereitete ich Weihnachtsfeiern mit
persönlich für jeden einzelnen ausgedachten Gaben, ebenfalls den Schulen, wo
ich mehrere hundert Kinder beschenkte, den Krankenhäusern und Altersheimen.
Weihnachten mit seinen vielen Bescherungen war für mich der Höhepunkt des
Jahres. Die Vorbereitungen begannen bereits im Herbste, und kaum war der
letzte Baum erloschen, so mußte man schon an das nächste Jahr denken.
Ich gab meine ganzen Einnahmen für diese
gemeinnützigen Bestrebungen hin und mußte meine eigenen Bedürfnisse
einschränken. Wo soziale Gesetzgebung fehlt, hat man alle Hände voll zu tun,
für sie Ersatz zu schaffen. Es waren schöne Jahre.
Auch menschlich suchte ich meinen Katzdangern
näher zu kommen. Ich kannte sie ja alle. Auf wie vielen Hochzeiten, bei wie
vielen Beerdigungen bin ich gewesen, wie viele Kinder habe ich zur Taufe
gehalten! Ich liebte die Einzelnen aufrichtig und glaubte wiedergeliebt zu
werden. Ich hatte ihnen mein Herz gegeben voller Hoffnung auf Verständnis und
Gegenliebe, so daß es schmerzlich ist, langer davon zu reden. Ich glaube
nicht, daß von den vielen Letten, die ich einst so gut gekannt habe, denen
ich Vater und Freund zu sein meinte, heute noch ein einziger meiner gedenkt.
Als letzte Erinnerung an mich soll in einem neuen lettischen Museum in Riga eine
schauerliche Knute gezeigt werden, "mit der", wie ein Zettel
besage, "der Katzdangensche seine unglücklichen Untertanen zu züchtigen
pflegte". Mit ihr bewaffnet werde ich wohl in die lettische
Unsterblichkeit eingehen.
Gewiß habe ich viel geirrt, oft ungenügend, oft
an falscher Stelle eingegriffen, bei manchem mag mich jugendliches
Geltungsbedürfnis oder unreifer Betätigungsdrang geleitet haben; nicht alles
geschah aus reiner Nächstenliebe, vieles aus dem Gedanken, die lettische
Frage durch soziales Entgegenkommen zu losen. Die sittlichen Verdienste der
Reichen werden leicht überschätzt. Es ist für sie im allgemeinen bequemer,
sich in Kleinigkeiten großzügig und gütig als eng und hart zu zeigen, und
schließlich geht man den einmal vielleicht zufällig gewählten Weg
zwangsläufig weiter, schon aus Gewohnheit und aus Scheu, die beifällige
Mitwelt zu enttäuschen. Im Verhältnis zu meiner Stellung als Majoratsherr und
zu den mir dadurch obliegenden Verpflichtungen waren meine freiwilligen,
gemeinnützigen Opfer ja nicht groß, eigentlich selbstverständlich, und ich
hätte mich noch viel mehr im ganzen und einzelnen dieser Arbeit widmen
sollen. Ich erwähne sie, um zu zeigen, daß doch auch echte Liebe und
wirklicher Eifer dabei waren, ja mit der Zeit immer mehr in sie hineinkamen,
und daß sie doch nicht die spätere haßerfüllte lettische Antwort verdient
hat. Ich schreibe dies auch, um darauf hinzuweisen, daß ein guter Wille nicht
nur mich, sondern die meisten unter uns Gutsbesitzern beseelte. Katzdangen
ist nur ein Beispiel von vielen. Es gab im Lande Güter, die in ihrer Art
ähnlich, vielleicht besser wirkten. Ich kann nicht über sie schreiben, weil
ich nur Katzdangen genau kenne; aber überall suchte der baltische Gutsherr in
väterlicher Weise für seine Leute zu sorgen, wenn auch ein so beglückendes
Zusammenleben, wie es in Deutschland möglich, ja natürlich war, hier durch
die Blutsverschiedenheit beeinträchtigt wurde. Güter, auf denen sich die
Herrennicht um ihre Untergebenen kümmerten, gehörten zu den Ausnahmen. Das festzustellen,
ist neben anderem ein Zweck dieser Schilderung, die, um ein lebenswahres Bild
zu geben, auf Einzelheiten eingehen mußte.
Vor allem bemühte ich mich, im deutschen Sinne
zu wirken. Wie ich auf die Gemeindeverwaltung und auf die Wahl ihrer Beamten
einen staatserhaltenden und deutschfreundlichen Einfluß auszuüben suchte, so
kümmerte ich mich auch um die Schulen, was zu manchen Zusammenstößen mit den
jüngeren, zumeist umstürzlerischen und deutschfeindlichen Lehrern führte.
Schließlich aber hatte ich es doch durchgesetzt, daß in allen Schulen meines
Gebietes die deutsche Sprache, freilich nur als Nebenfach und
selbstverständlich auf meine Kosten, gelehrt wurde. Wo ich konnte, sprach ich
mit den Letten deutsch; in Katzdangen verstanden es sehr viele, besonders
unter den Bauern. Sie lasen auch gerne die ihnen in der deutschen Abteilung
der Bücherei dargebotenen Bücher und Zeitungen.
Diese deutsche Beeinflussung beschränkte sich
nicht auf die unteren Schichten. Auch die bisher wenigen, aber an Zahl stets
wachsenden lettischen Gebildeten sollten dem Deutschtum gewonnen werden. Sie
standen ihm durch ihre Ausbildung auf den bislang deutschen Schulen und
vielfach auch durch anerkannte oder mit Recht vermutete Ahnen oft näher als
es schien und sie selber wahr haben wollten. Gerade sie für das Deutschtum zu
gewinnen, erschien mir wertvoll. In dem kleinen Kreise der Künstler, die ich
in Katzdangen den langen Sommer über als Gäste hatte, befanden sich auch
mehrere lettischer Abkunft, unter ihnen der größte lettische Maler, Purvit,
den ich nicht nur als Künstler, sondern auch als Menschen aufrichtig lieb
gewann, sowie der junge litauische Maler Kalpokas, der
jahrelang in Katzdangen lebte und den ich zu seiner Weiterbildung auch nach
München sandte. Sie alle wuchsen unbewußt in deutsches Wesen hinein.
Meine gemeinnützigen Bestrebungen fanden
Anklang, sie wurden nachgeahmt und gerade von den Letten auch in ihren
Zeitungen oft und über Verdienst gepriesen; jedoch war ein dauernder Erfolg
vor allem in deutscher Hinsicht kaum zu erwarten. Bei den damaligen
Verhältnissen schien höchstens noch eine Erhaltung, nicht mehr eine
Erweiterung des Deutschtums möglich. Es sollte sich bald zeigen, daß es
leichter war, hundert deutsche Siedler anzusetzen, als nun noch einen
einzigen Letten ganz einzudeutschen.
Aber schließlich ist ja alle meine damalige
Arbeit scheinbar vergeblich gewesen. Bei allen ihren angeblichen Erfolgen
wurde ich auch nie der leisen Gewissensbisse Herr, die mich mahnten, lieber
nach Deutschland zurückzukehren, weil alle Mühe in Kurland doch umsonst sei.
So hatte ich gleich nach meiner Rückkehr aus
Deutschland um die Entlassung aus dem russischen Staatsverbande nachgesucht,
was mir aber auf Betreiben des kurländischen Gouverneurs abgeschlagen wurde.
Das Oberhaupt der Provinz sah natürlich nicht gerne, daß ein baltischer
Großgrundbesitzer die deutsche Staatsangehörigkeit erwarb. Im Jahre 1904 aber
wurde der gefällige Fürst Swjatopolk-Mirski, zu dem ich
Beziehungen hatte, Innenminister. Nun hätte ich mein Ziel wohl erreichen
können. Da brach jedoch der russisch-japanische Krieg aus; Kurland schickte
eine Abteilung des Roten Kreuzes als "Fliegende Kolonne" auf den
Kriegsschauplatz in die Mandschurei und stellte einen älteren Baron Hahn
und mich, die wir beide Johanniterritter waren, an die Spitze. Ich sagte mir
— o menschliche Kurzsicht —, daß ich sonst wohl nie mehr einen Krieg
mitmachen würde; zudem reizte es mich, Sibirien und die Mandschurei
vielleicht bis zum Stillen Ozean kennenzulernen. Ich beschloß daher, der
ehrenvollen Aufforderung zu folgen und ließ damit die Gelegenheit, aus dem
russischen Staatsverbande auszutreten, ungenutzt vorübergehen. Doch möchte
ich jenen Sommer, der mich durch die schier endlosen Ebenen Asiens nun
wirklich bis zur Küste des Großen Ozeans führte, nicht missen. Besser als es
mich je die Erdkunde lehren konnte, lernte ich den fast unfaßbaren, von den
verschiedensten Völkern bewohnten russischen Raum verstehen und auch seinen
Beherrscher, den uns in manchem geheim verwandten, großzügig
sehnsuchtsvollen, gutmütig schwachen, durch Beinen mongolischen Einschlag
aber auch listig rohen, in seiner Seele zerrissenen Russen.
Da wir als "Fliegende Kolonne"
Verwundete vom Schlachtfelde aufzulesen hatten, bin ich dem Kriegsgeschehen
stets nahegeblieben, mehrfach ins Feuer gekommen und habe schließlich das
russische Georgskreuz erhalten, das sonst nur an Angehörige der fechtenden
Truppe verliehen wurde. Es hat mir gute Dienste geleistet. Die Sitte
verlangte, daß man das schwarzgelbe Bändchen ständig im Knopfloch trug, und
wenn ich späterhin etwas bei russischen Behörden für die deutschen Belange
durchsetzen wollte, fiel es mir als Träger dieses Kreuzes, das nicht nur als
Zeichen von Tapferkeit, sondern auch von Staatstreue galt, wesentlich leichter.
Während meiner Abwesenheit war ich in Hasenpoth
zum Kreismarschall gewählt worden. Ich kehrte daraufhin im Oktober 1904 vom
Kriegsschauplatze zurück und wurde von der lettischen Bevölkerung mit lautem
Jubel empfangen. Tausende waren gekommen, ihre Liebe und Treue zu bezeugen.
Tief beglückt meinte ich darin die Früchte meiner Arbeit zu sehen, den
Beweis, daß ich auf dem rechten Wege war, die lettische Frage durch
Entgegenkommen zu lösen. Aber auch ich fühlte mich mit jedem einzelnen
menschlich verbunden; jedem hätte ich wie im Liede der alte Herzog
Rauschebart das Haupt in den Schoß gelegt. Es war der Höhepunkt meiner Arbeit
an den Letten.
Doch kaum hatte ich mein Amt angetreten, als
sich schon die ersten Vorboten des Aufruhrs von 1905 bemerkbar machten, der
ganz Rußland erschüttern, vor allem aber in den Ostseelanden zu traurigen
Ausbrüchen führen sollte .
Der Kanonenschuß auf den Zaren bei der Wasserweihe Anfang 1905 war das erste
Sturmzeichen. Dann folgten in ganz Rußland Arbeiterausstände, Brandstiftungen
und Morde, die auch die Ostseeprovinzen nicht verschonten. Die Unruhen
ergriffen auch, was kaum jemand für möglich gehalten hätte, Katzdangen. Schon
der Frühling brachte mir die ersten, von fremden, meist jüdischen Hetzern
angestifteten Arbeitseinstellungen. Sie schienen vornehmlich als Erkundungs
versuche gedacht und wurden bald aufgegeben, hinterließen aber eine schwüle
Stimmung. Dadurch, daß ich ihnen entgegentrat, und zudem auch als
Kreismarschall allgemein für Ruhe und Ordnung sorgen mußte, verlor ich in
kürzester Zeit den scheinbar so großen Schatz an Zuneigung, den ich mir beim
lettischen Volke wie auch bei der lettischen Presse erworben hatte. Es kam
ein böser Sommer mit täglichen Hiobsbotschaften aus allen Teilen des Landes
von Zusammenrottungen, Überfällen und Morden. Katzdangen selber blieb
zunächst unberührt; doch sah man allnächtlich mal hier, mal da am
Himmelsrande den unheimlichen Feuerschein einer Brandstiftung auf einem
Nachbargute. Im Spätherbste aber brach in ganz Katzdangen ein zweiter, von
meinen eigenen Beamten geschürter, vierwöchiger "allgemeiner
Streik" aus, bei dem Vieh und Pferde nur durch reitende Hilfsabteilungen
ernährt werden konnten. Auch diesen Ausstand brachte ich scheinbar siegreich
zum Erlöschen; dann aber, als ich im Vertrauen auf den nun geschlossenen
Frieden nach Mitäu zum Landtage gefahren war, flammten neue, schlimmere Unruhen
auf. Die Führung der ersten flach Kurland gesandten russischen Truppen
versagte völlig. In einer dunklen Dezembernacht drang eine aufrührerische
Bande ins Schloß und ermordete meinen treuen, deutschen Leibjäger. Der von
mir erzogene Sohn meines verstorbenen lettischen Kutschers hatte ihnen die
Tür geöffnet. Die aus Hasenpoth herbeigerufenen Dragoner
"entwaffneten" auf Befehl ihres "liberalen" Rittmeisters
die Bevölkerung, also, da die Anführer entflohen waren, meine letzten zuverlässigen
Leute. Dann zogen die Soldaten ab. Das nun völlig schutzlose Schloß wurde
gleich darauf wieder von den Aufständischen besetzt und in der Silvesternacht
auf 1906 eingeäschert. In einer lettischen Kundmachung hieß es, man habe
"dem Baron auch einmal einen Weihnachtsbaum anzünden wollen". Das
Schloß brannte noch drei Tage. In seiner Asche wurde nicht nur eine lange,
glückliche Vergangenheit, sondern auch jede auf der alten Grundlage erstrebte
Zukunft begraben. Denn fast alle Letten hatten mich verraten, auch von meinen
besonderen Freunden, den Bauernhofbesitzern, hatten sich nur wenige abseits
gehalten, — für mich eingetreten war keiner.
Dieser Aufstand stellte das Deutschtum vor eine
schwierige Frage. Es hätte dem Geiste der Ritterschaft entsprochen, den
lettischen Banden mit der Waffe in der Hand zu begegnen. Das wäre jedoch
staatsmännisch ein Fehler gewesen. Die russische, meist urteilslose
öffentliche Meinung war seit langem durch die Presse sowie andere, lettische
und liberale Brunnenvergiftung deutschfeindlich bearbeitet worden und
gewohnt, in den Letten bedauernswerte Opfer deutscher Herrschsucht und
Willkür zu sehen. Sie hätte sich, wären wir den Aufrührern bewaffnet
entgegengetreten, sofort auf deren Seite gestellt, im günstigsten Falle hätte
es geheißen: "Dort unten im Ostseegebiete bekämpfen sich zwei fremde
Völker um ihrer eigenen Belange willen. Gott weiß, wer recht hat; am besten,
wir unterdrücken sie beide!" Wir mußten also der lettischen
Aufstandsbewegung ausweichen und warten, bis sie ihr volles, aufrührerisches,
nicht nur gegen das Deutschtum, sondern vor allem gegen Staat und bürgerliche
Gesellschaft gerichtetes Gesicht zeigte. Auch hatten wir nun zu unserem
Schmerz erkannt, wie schwach wir zahlenmäßig waren. So zogen wir uns zur
großen Unzufriedenheit mancher Heißsporne in die Städte zurück und warteten
auf den Zusammenstoß, der zwischen den Letten und der russischen Truppe über
kurz oder lang unvermeidlich war. Er kam bald. Die Letten überfielen in
Tuckum bei Nacht das ahnungslos schlafende Dragonerregiment der
Kaiserin-Mutter und metzelten 28 Soldaten und auch den Oberst nieder. Diese
vorzüglichen Dragoner hatten bei Beginn der Wirren in Katzdangen gestanden.
Es war mir, der ich als Kreismarschall von Amts wegen der Trauerfeier für die
Opfer in der russischen Kirche zu Mitau beiwohnte, ein furchtbarer Eindruck,
jene mir so wohl bekannten Menschen gräßlich verstümmelt mit ausgestochenen
Augen und aufgeschlitzten Nasen in ihren nach russischer Sitte offenen Särgen
liegen zu sehen. Das Gesicht des Obersten war mit einem weißen Tuche
verdeckt, offenbar, weil es von den Letten so zugerichtet war, daß es keinen
menschenähnlichen Anblick mehr bot. Die grausigen Bilder wurden späterin der
russischen Presse veröffentlicht, und nun begriff in Rußland jedermann, daß
es sich um einen lettischen, gegen den Staat gerichteten Aufruhr handelte.
In Petersburg hatte die Regierung mittlerweile
den Aufstand niedergeschlagen und ging nun mit ungewohnter Tatkraft daran,
auch in Kurland reinen Tisch zu machen. Es war schmerzlich spät. Viele der
Besten waren ermordet. Allein im Hasenpother Kreise waren 32 Gutshäuser von
den Mordbrennern eingeäschert worden, bei mir auch noch das Puhnensche Haus,
wo ich als Kind, solange mein Großvater in Katzdangen lebte, mit meinen
Eltern gewohnt hatte. Katzdangen war eines der letzten Opfer gewesen.
Unmittelbar darauf griffen die Truppen endlich ein, und bei ihren ersten
Schüssen zerplatzte der Aufruhr wie eine trübe Seifenblase. Wieviel Blut
hätte erspart werden können, wenn sich die russische Regierung früher ermannt
hätte. Eine einzige, rechtzeitige Hinrichtung hätte Hunderten von Deutschen
und Letten das Leben bewahrt. So trug die Schwäche der Regierung einen großen
Teil der Schuld an unserem Unglück.
Auch jetzt wäre es staatsmännisch richtiger
gewesen, sich von allen nun folgenden "Strafexpeditionen" möglichst
fern zu halten. Ich erinnere mich noch, wie überzeugend der Führer der
Ritterschaft uns Kreismarschällen darlegte, wir sollten nicht vergessen, daß
wir mit den Letten noch Jahrhunderte zusammenzuleben hätten, daß wir also die
Kluft zwischen ihnen und uns nicht vergrößern dürften, indem wir an den
unvermeidlichen Strafmaßnahmen teilnähmen. Aber die umstände zwangen uns doch
dazu. Bei der Geschicklichkeit der Letten in Verdächtigungen und Verleumdungen,
denen die leichtgläubigen Russen nur zu schnell zum Opfer fielen, kam es
dazu, daß gerade die zuverlässigen, den Gutsbesitzern treuen Menschen als
Aufrührer angegeben und von den Soldaten ergriffen wurden, um erschossen zu
werden. Wollten wir solche unerträgliche Ungerechtigkeiten, die sich aus dem
Unverstände der Russen und der Hinterhältigkeit der Letten ergeben mußten,
verhindern, wollten wir die aufständischen Kräfte wenigstens für einige Jahre
unschädlich machen, so waren wir vor Gott und Menschen verpflichtet, den
Russen bei der Wiederherstellung der Ordnung Hilfe zu leisten. Nur so ist es
gelungen, den Aufruhr gerecht und erfolgreich zu unterdrücken. Aber die Kluft
der Zwietracht zwischen Letten und Deutschen wurde dadurch noch vertieft und bei
der Wesensart der Letten fast unüberbrückbar. Nun war eine Versöhnung, ein
Zusammenarbeiten mit ihnen, zumindest für unser Zeitalter ausgeschlossen.
Ebenso wie meine eigenen Bestrebungen erschienen jetzt auch alle ähnlichen
Versuche aussichtslos. Die Macht der Verhältnisse hatte über alle weisen
Vorsätze gesiegt.
Das Deutschtum war nun ganz auf sich gestellt.
Mit einem Schlage waren wir uns unserer gefährdeten Lage bewußt geworden. In
jedem Letten mußten wir einen Feind sehen. Wir hatten es an unserem Blut und
Gut gefühlt, wie wenige wir waren, wie sehr unser Weiterleben in der Heimat
nur noch von der zweifelhaften Duldung durch die russische Regierung abhing.
Alles schien verloren bis auf den Glauben an uns selbst. Einige wenige
verließen unter der drückenden Hoffnungslosigkeit jener Tage das Land, wohl
in der Überzeugung, daß eine bleibende Rettung nur von Deutschland kommen
könne. Die Zurückbleibenden, alle Lager und Stände, schlössen sich um so
fester zusammen. Man ging an den Wiederaufbau wie an etwas Selbstverständliches.
Auf die noch rauchende. Brandstätte Katzdangens wurden bereits die ersten
Balken zum Neubau gefahren. Als ich meinem Vetter Recke nach
der Zerstörung seiner alten Burg meine Teilnahme äußerte, erwiderte er:
"Neuenburg ist in jedem Jahrhundert einmal abgebrannt". Niemand
durfte am Lande verzweifeln. Die Ritterschaft sprach den Wegbleibenden
öffentlich ihren Tadel aus.
Es war, als ob der Verlust ihres Eigentums die
einzelnen Menschen gehoben hätte. Viel Kleines und Kleinliches, woran man
gehangen hatte, war zugrunde gegangen. Statt dessen traten die größen Linien
im Schicksale des Landes wie des einzelnen um so klarer hervor. Wer mochte an
vernichtete Möbel oder ahnenbilder, an zerstörte persönliche Erinnerungen
denken, nachdem er die grausige Gewalt der das Land und uns alle bedrohenden
Schicksalsmächte erfahren hatte! Wir waren durch eine harte, eindrucksvolle
Schule gegangen.
Es war auch die große Stunde des in uns allen
klar erwachten völkischen Empfindens. Was jeder bisher für sich als
selbstverständlich gepflegt und still geliebt hatte, das eroberte nun als
laute, unbeschränkte Losung alle Herzen. Eine herrliche Zeit, da das ganze
baltische Deutschtum, seiner einzigartigen, gottgegebenen Aufgabe bewußt,
sich durch sie und für sie zusammenfand, um sich bis heute nicht mehr zu
trennen. Glücklich, wer jene Tage miterleben durfte! Ich habe die Zerstörung
Katzdangens mit seinen ehrwürdigen Erinnerungen und die Vernichtung aller
meiner bisherigen Bestrebungen nicht mehr bedauert; wir alle haben die
damaligen Opfer sowie den Bruch mit dem Lettentum und mit einer
liebgewonnenen Vergangenheit gern getragen, weil uns dadurch etwas Neues,
Höheres, die Einheit des Baltentums und ein großes deutsches Hochziel geschenkt
wurde. Wir erkannten, daß wir nicht zum Frieden, sondern zum Kampf auf
unseren Vorposten gestellt waren. Gott hatte uns durch die Not zu
Selbstbesinnung und Selbsterstarkung zurückgeführt. Er zeigte uns auch Wege,
unser Deutschtum nicht nur wie bisher dürftig zu erhalten, sondern es zu
stärken und auszudehnen, Wege, die vielleicht zu einem Siege der deutschen
Sache führen konnten, wenn es uns gelang, den lettisch-estnischen
Bauernstand, die unglückliche Grundlage unseres baltischen Hauses, durch die
deutsche Siedlung zu ersetzen. So ist mir der lettische Aufstand später als
ein Segen erschienen, ich habe das alte Katzdangen für das Glück der Siedlung
gern hingegeben. Es war die große Wende in der Geschichte des Landes und auch
in meinem Schicksal, und wenn sie schließlich nicht das gebracht hat, was sie
versprach, so bin ich doch Gott dankbar, diese Zeit der Kämpfe und der
hoffnungsvollen Siedlungsarbeit miterlebt zu haben. Einst werden glücklichere
Geschlechter unser Werk wieder aufnehmen und schöner beenden.
Damals opferte ich endgültig meine
Zukunftspläne, die mich ins Auswärtige Amt nach Berlin gewiesen hatten. Es
galt, meine nächstliegende Pflicht gegen das Land zu erfüllen, als
Kreismarschall an der fortschreitenden Beruhigung mitzuarbeiten, als Majoratsherr
die durch den Aufstand arg verwirrten Verhältnisse Katzdangens zu ordnen, das
zerstörte Schloß wieder herzustellen (Anm.
3), vor allem aber als Deutscher in dieser Todesgefahr zu meinem Volke zu
stehen, auf der mir von Gott zugewiesenen baltischen Warte den deutschen
Kampf der Väter fortzuführen. Um so mehr, als sich gerade jetzt unverhoffte
Aussichten auf eine entscheidende Rettung boten.
Die Regierung war durch die Volkserhebung, die
sich über ganz Rußland erstreckt hatte, erschüttert worden und hatte
allgemeine Zugeständnisse gemacht, die auch dem Deutschtum eine größere
Duldung in Kirche und Schule brachten. Ihre starren Verrussungspläne schienen
zunächst aufgegeben. In ganz Rußland wurde eine Art Verfassung eingeführt und
für die Ostseeländer eine Selbstverwaltung vorgesehen, die uns auf allen
Gebieten eine größere Betätigungsfreiheit zu bieten schien. Auch die
staatserhaltenden Regierungskreise Petersburgs hatten den Wert des
zarentreuen Deutschtums als Einsatz gegen die staatsfeindlichen,
umstürzlerischen Letten schätzen gelernt und waren gewillt, ihm als dem
kleineren Übel entgegenzukommen. Nur wenige Balten erkannten damals, daß jede
freiere Gestaltung des russischen Staatswesens für uns die Gefahr in sich
schloß, aus den Händen eines harten, aber immerhin geschichtlich vertrauten
und gesellschaflich eher beeinflußbaren Despotismus in die unseres
Todfeindes, des schonungslosen, lettischen Nationalismus zu fallen, vor dem
uns dann kein Zar und kein Minister schützen konnte. Freilich erfaßten gerade
die Älteren unter uns die unerbittliche Zeitwende nicht ganz und begrüßten
hoffnungsvoll die flüchtige, uns nach dem lettischen Aufstande wieder umstrahlende
Zarensonne; aber auch die Einsichtigeren hielten es für ihre Pflicht, die uns
vom Schicksal noch gegönnte Frist voll zu nützen.
Zugleich mit unserer allgemeinen völkischen
Erweckung war in Kurland auch ein neuer Menschenschlag ins öffentliche Leben
getreten, aufgeschlossener, opferwilliger und deutscher, im ganzen auch
weniger junkerhalt, als es die Zeitgenossen meines Vaters gewesen waren. Sie
glichen eher den Freunden meines Großvaters. Woher kamen sie? Man hatte
bislang nicht von ihnen gewußt, nun waren sie da, und ich erlebte staunend
das unerwartete Heraufkommen eines abermals anders geprägten Geschlechtes,
das wiederum für Kurland ein neues, deutscheres Zeitalter schuf (Anm.
4).
Mit diesen Menschen im öffentlichen Leben zu
arbeiten, war mir ein Glück. Bisher hatte ich mich als Kreismarschall mehr
als Vertreter einer bestimmten Richtung gefühlt, die mich ohne mein Verdienst
gewählt hatte, und von der ich auch weiter abhängig war. Da erhielt ich
mitten in den schlimmsten Tagen des Aufruhrs, im Trubel des Katzdanger
Arbeiterausstandes, eines Morgens die Nachricht, daß zwei alte,
hochangesehene Herren, auf deren politisches Wohlwollen ich bisher angewiesen
war, in der vorhergehenden Nacht Hasenpoth überstürzt verlassen hätten, und
mitten in der Unruhe der anderen sich überschlagenden, wirren Nachrichten
überkam mich ein bisher unbekanntes Gefühl von Sicherheit und Glück, daß ich
nunmehr der wirkliche Herr meines Kreises geworden war. Und noch in denselben
Tagen fanden sich unerwartete Mitarbeiter, Männer jenes kommenden Zeitalters
ein, denen ich auch dem Alter nach näher stand, wenngleich ich immer noch
einer der Jüngsten blieb. Ihnen war ich Kreismarschall nicht nur wegen der
Überlieferung, sondern als Vertreter der gleichen deutschen Gesinnung, die
uns nun während des lettischen Aufstandes und nachher beim neuen Aufbau des
Deutschtums bis zum Untergange Deutschkurlands unverbrüchlich einte, zur
Herrschaft führte und auch zur Herrschaft befähigte. Auf jene Gesinnung
allein kam es auch bei jedem einzelnen an. Der Beitrag an Begabung, an
Bildung und Kraft war bei uns sehr unterschiedlich — ich habe den meinen nie
sehr hoch eingeschätzt —, gewiß waren uns frühere Zeitalter in vielem
überlegen, aber schon damals galt, wie jetzt im nationalsozialistischen
Reiche, für uns alle das eine: Der deutsche Wille entscheidet.
Damals gründeten wir den "Verein der
Deutschen in Kurland", der das ganze Deutschtum des Landes umfaßte und
dessen Vorsitzer ich wurde .
Zu diesem Vereine gehörten alle Deutschen, gleichviel welchen Standes. Man
fragte auch nicht mehr, ob einer politisch rechts oder links
eingestellt sei, sondern man war entweder russisch oder lettisch oder deutsch
gesinnt. Und deutschgesinnt waren alle Balten. Auch in den beiden
Schwesterprovinzen Livland und Estland waren gleichzeitig gleiche Verbände
gegründet worden.
In diesen Vereinen fanden sich der Adel und die
anderen gebildeten Stände mit den deutschen Handwerkern und später mit den
einwandernden Siedlern zu aufopfernder Arbeit fürs Deutschtum. Vor allem,
waren es die Pfarrer, die tapfer und treu für die deutsche Sache eintraten.
Viele rührende Züge haben sich mir tief eingeprägt. So brachte ein junger
Baron Hahn, der mit seiner Mutter auf einem kleinen Gute in
beschränkten Verhältnissen lebte, mir vor Weihnachten 300 Rubel, die er und
seine Mutter "im Laufe eines halben Jahres mit vielen, aber gern
getragenen Opfern für den Deutschen Verein gespart" hätten. Ich denke
auch an eine Handwerkerswitwe, die ihr ganzes Vermögen, 65 Rubel, dem Verein
vermachte, oder an Schüler, die zu seinen Gunsten auf Ferienausflüge, an
Kinder, die auf Weihnachtsgeschenke verzichteten.
Der Deutsche Verein war einfach aufgebaut und
leicht zu leiten, weil sich ihm alle gleichmäßig opferwillig zur Verfügung
stellten; es gab auch — ich habe dies später im Unterschiede zu anderen
Vereinen im Reiche, deren Vorsitzer ich war, lebhaft empfunden — keine Ränke
und keine Reibereien. Nie wieder habe ich solch ein einheitliches,
beglückendes Zusammenleben gekannt. Wie gerne würde ich allen Mitarbeitern
noch einmal einzeln danken! Damals hielt ich vieles für selbstverständlich
und erkannte nicht genügend, wie gering mein eigener Anteil an allen Erfolgen
war, wie wenig ich den Dank verdiente, den man mir gütig immer wieder
spendete. Wie viele edle Menschen habe ich gerade im Gelehrtenstande
gefunden, wie viele Freunde unter ihnen, denen ich nun erst durch die
gemeinsame Arbeit verbunden wurde; war ich doch dadurch, daß ich die
Hochschule in Deutschland und nicht in Dorpat besucht hatte, gerade ihnen
anfänglich fremd gewesen.
Es bleibt das große Verdienst der drei
baltischen Deutschen Vereine, daß sie in ihrem das ganze Deutschtum einenden
Wirken auch den vor allem in Kurland bestehenden Standesgegensatz zwischen
Adel und Literaten aufs schönste überbrückt haben. Dieser Gegensatz war wohl
darauf zurückzuführen, daß sich der Literatenstand zu hoher Blüte, zu einer
dem Adel gesittungsmäßig gleichwertigen Schicht entwickelt hatte und nun
daraufhin an der vom Adel geschichtlich erworbenen Stellung teilhaben wollte,
wie er es in Deutschland schon erreicht hatte. Das war verständlich, aber
ebenso verständlich war es, daß der Adel die neue Lage nicht ohne weiteres
anerkennen wollte. Die meisten gewaltsamen Umwälzungen entstehen ja nicht aus
der Unterdrückung eines Standes, sondern daraus, daß sich die wirklichen
Machtverhältnisse schneller ändern, als die Gesetze nachkommen können. Im
damaligen Rußland fehlte der ausgleichende Einfluß einer weisen Regierung. So
gesehen, wäre es falsch, auf der einen Seite von Adelsdünkel und Junkertum,
auf der anderen von Adelshaß und Neid zu reden. Die veränderte Zeitlage, der
Aufstieg des Literatenstandes hatte den Gegensatz geschaffen, und es ehrt
beide, Adel und Bürgertum, daß sie ihn, sobald es sich um deutsche Belange
handelte, zu vergessen verstanden. In den Deutschen Vereinen war er völlig
ausgeschaltet, und durch sie verlor er bald auch im übrigen baltischen Leben
an Bedeutung, um im späteren Heldenkampfe der Landeswehr ganz zu erlöschen.
Dies war die andere große Wende, die sich damals vollzog.
Der Kampf gegen den russischen Druck hatte uns
gehindert, die im raschen Aufstiege der Letten liegende Gefahr voll zu
erkennen. Nun beanspruchte die Abwehr alle Kräfte, sie drängte die
Ritterschaften immer mehr dazu, über ihre eigenen Belange hinaus die allgemein-deutschen
zu verfechten. Die Standespolitik ging in Volkspolitik über. Je mehr sich
aber die Tätigkeit der Ritterschaft zum Kampf gegen die russische und
lettische Bedrohung erweiterte, um so mehr wollte und mußte das ganze
Deutschtum an ihm teilnehmen. So wurden die Deutschen Vereine zwar nicht
gesetzmäßige, aber durch ihren Einfluß auf die deutsche Einstellung doch
wichtige Mitträger der Landesführung und spielten somit auch eine öffentliche
Rolle.
Das Vorgehen des Vereins der Deutschen in Kurland
ist öfter auch von deutscher Seite als zu unentwegt und schroff und damit als
"unpolitisch" angegriffen worden. Eine zu starke Betonung des
Deutschtums könne die Russen mißtrauisch machen, meinten jene
anpassungswilligen Vertreter von Adel und Großgrundbesitz, die, wie wir
sahen, eine Sicherung baltischer Belange wenigstens zum. Teil von einer
Verständigung mit den staatserhaltenden Kräften des Zarenreiches erhofften.
Da diese Richtung selbstverständlich bei Hofe und bei den Ministern beliebter
und damit dort einflußreicher war als ihre weniger nachgiebigen Gegner, so
wählten wir unsere amtlichen Vertreter mit Vorliebe aus ihren Reihen, obwohl
sie die Minderheit waren. Nun aber schoben diese unsere Vertreter alle
Mißerfolge ihrer an sich schon aussichtslosen Petersburger Bemühungen auf das
"undiplomatische" Verhalten der Deutschen Vereine. Ich habe
demgegenüber im kurländischen Landtage darauf hingewiesen, daß eine Einigung
und Wachhaltung des Deutschtums ohne Stimmungsmache nicht möglich sei, daß,
wer das Ziel wolle, die notwendigen Mittel nicht ablehnen dürfe, daß ein alle
Volksklassen umfassender Verein hörbarer und rücksichtsloser vorgehen müsse
als amtliche Vertreter, daß nicht alle Vereinsmitglieder schwächlich kühle
Diplomaten seien und es auch nicht sein sollten, da sie sonst ihre
ursprüngliche Kraft und ihren mitreißenden Einfluß verlieren und nichts
erreichen würden, wie wir es überdies auch anderswo zu unserer Betrübnis
sähen. Im übrigen aber suchte ich, solche Gegensätze, die sich aus verschiedener
Wegewahl ergaben, möglichst auszugleichen und meine Mitkämpfer von nutzlosen
Übertreibungen zurückzuhalten.
Der Deutsche Verein gründete in Stadt und Land
Bürgerschulen vor allem für Mittelstand und Handwerkerkreise. Wir schufen
deutsche Volksbüchereien, wandernde Bücherkisten und veranstalteten deutsche
Abende und Vorträge.
Auch mit den Brudervereinen in Livland und
Estland arbeiteten wir Hand in Hand. Gemeinsam mit ihnen wurde in Riga ein
deutsches Handwerkerheim mit Fortbildungsschule gegründet, in Mitau ein
vorbildliches Lehrerseminar erbaut. Alle diese Bestrebungen fanden vor allem
in Kurland einen günstigen Boden, weil hier das Deutschtum auf dem Lande
verhältnismäßig stärker als in den Nachbarprovinzen vertreten war. Um so
verdienstvoller war die Arbeit der Brudervereine, an deren Spitze in Livland
Landrat von Sivers-Römershof,
in Estland sein Schwager Baron Eduard von Stackelberg standen. Sivers, ein einheitlich geschlossener Mann in des
Wortes großer Bedeutung, stark und fest in seinem Wollen, oft schroff und
starr in seinen Grundsätzen, aber immer seinem Hochziele treu, ist um
Weihnachten 1918, nach dem deutschen Zusammenbruch von den Letten aus seinem
Schlosse an der Düna vertrieben, in Libau an gebrochenem Herzen gestorben. Stackelberg,
der Mann seiner edlen Schwester, weitgebildet, aufgeschlossener und
besinnlicher, aber ebenso hochgemut, hat noch lange die deutsche Sache im
Reiche verfochten. So waren sie Vorbilder des besten Baltentums. Ihnen beiden
hätte die Würde eines Ehrendoktors, die mir die Breslauer Hochschule für
meine Deutscharbeit jener Jahre verlieh, vor uns allen gebührt.
Die höheren Schulen freilich konnte der
Deutsche Verein in Kurland nicht von sich aus begründen. Es war
das stolze Vorrecht der Ritterschaft, sie zu errichten und mit großen Mitteln
zu erhalten. Der Betrag, den der einzelne Gutsbesitzer für sie an
"Willigungen" zahlte, war größer als alle seine Staatsabgaben, aber
wir opferten ihn gern, und die beiden in Mitau und Goldingen von der
kurländischen Ritterschaft errichteten Lateinschulen entsprachen mit ihrer
vorzüglichen Lehrerschaft allen Erwartungen. Von nun an handelten die meisten
Landtagsanträge von Bewilligungen für deutsche Belange. Über uns alle war
unversehens ein neuer Geist gekommen, dem sich niemand entziehen konnte.
Dies alles war erst jetzt nach dem lettischen
Aufstande möglich geworden; denn früher hätte die russische Regierung solche
deutsche Bestrebungen nicht geduldet. Nun aber, da sie die Schwäche des
Deutschtums erkannt und zudem eingesehen hatte, daß sie an ihm einen Schutz
gegen die umstürzlerische Haltung der Letten besaß, war sie eher bereit, uns
diese neuen Lebensregungen zu gestatten, ganz abgesehen davon, daß wir
ohnedem aus der in Rußland nun allgemein gewährten größeren Freiheit Nutzen
zogen.
Und doch blieben wir im großen gesehen
Offiziere ohne Soldaten, und alle Aufopferung konnte unser Ziel, wenigstens
den bisherigen Stand des Deutschtums zu halten, auf die Dauer nicht erfüllen.
Ein alter Kreismarschall hatte mir einst für eine Rede das Bibelwort
empfohlen: "Und stärket das andere, das sterben will." Aber gegen
das unerbittliche Gesetz, daß die Städte, auf sich gestellt, aussterben und
nur durch Zuwachs vom Lande erhalten werden, konnte der Deutsche Verein nicht
ankämpfen. Das baltische Deutschtum saß größtenteils in Städten, während die
Letten das offene Land bevölkerten und dadurch trotz schwacher Zunahme doch
noch die städtische Bevölkerung an Geburtenzahl übertrafen. So mußte allein
durch den Gang der Volksvermehrung die Stellung der Deutschen von Jahr zu
Jahr geschwächt, die der Letten gestärkt werden. Die Lage des Deutschtums war
auf die Dauer hoffnungslos, wenn es nicht gelang, etwas Neues ins Land zu
rufen.
Das war die deutsche Siedlung. Sie allein
konnte bleibende Rettung bringen. Ich habe einmal in einer Rede gesagt, daß
ich mich als Vorsitzer des Deutschen Vereins wie der Befehlshaber einer
belagerten Festung fühlte, die sich aufs tapferste gegen eine Übermacht
wehre; trotzdem falle ein Bollwerk nach dem ändern, einmal werde die Festung
doch vom Feinde genommen werden, wenn keine Hilfe von außen komme; und so
könne es mir niemand verdenken, daß mein Herz bei den Fahnen des
Entsatzheeres, bei der Siedlung sei. Von ihr vor allem soll auch hier die
Rede sein. Sie wurde die Hoffnung aller zielbewußten Deutschen. Es war ein
großgewollter, verzweifelter Versuch, dem Deutschtum noch in letzter Stunde
die fehlende Grundlage zu schaffen und das Werk wieder aufzunehmen, das der
Orden unvollendet hinterlassen hatte.
Während die anderen Maßnahmen zur Erhaltung des
Deutschtums vorausschauender Überlegung entsprangen, ist gerade die
wichtigste, die Siedlung, mehr aus gottgegebenen Glücksfällen geboren worden.
Nach dem Abzuge der russischen Truppen waren die Deutschen auf dem Lande
schutzlos und, wenn der lettische Aufstand auch niedergeworfen war, doch
allen möglichen Handstreichen ausgesetzt geblieben. Um sich zu sichern, hatte
man die staatliche Schutzmannschaft durch einheimische, von der Ritterschaft
unterhaltene deutsche Kräfte erheblich verstärkt und überdies aus Deutschland
junge Leute angeworben, die meist als Hilfsjäger den Sicherheitsdienst auf
dem Lande übernehmen sollten. Es waren ihrer nur wenige und, wie das bei
solchen Anlässen verständlich ist, nicht immer die besten gekommen. Aber wir
hatten zur Zeit niemand an ihre Stelle zu setzen. Als wir wieder einmal in
Mitau über diesen "Selbstschutz" berieten, schlug Baron von der Recke-Durben
vor, die Zahl dieser Jäger — es handelte sich um ein paar hundert — zu
verdoppeln, und diese dann, wenn irgend möglich, mit deutschen Frauen zu
verheiraten. Er führte aus, wie sehr das Deutschtum verstärkt werden könnte,
wenn jeder von ihnen möglichst viele Kinder hätte. Das wäre aber doch
unzureichend gewesen. Ich hatte zufällig von den deutschen Siedlern in
Südrußland gehört. Ohne etwas Näheres über sie zu wissen, schlug ich vor, von
dorther deutsche Kräfte heranzuziehen, die auch billiger sein würden als die
kostspieligen Jäger aus Deutschland, deren Unterhalt dem durch den Aufruhr
geschwächten Großgrundbesitz nicht leicht falle. Da gab es wiederum der
Zufall, daß der Geschäftsführer der ökonomischen Gesellschaft, in deren
Räumen diese Verhandlung statt-fand, Herr Boettcher, als junger Mensch in Wolhynien deutsche Siedler gekannt
hatte. Er pflichtete meinem Gedanken bei und meinte, wenn er auch bisher
nicht daran gedacht habe, so erscheine ihm das jetzt wirklich als eine große
und gute Möglichkeit; er wolle sofort an einen ihm dort bekannten Pfarrer
schreiben. Als wir wieder zusammenkamen, war die Antwort dieses Pastors, Althausen aus Rowno, bereits eingelaufen, glücklicherweise ein
ausführlicher, klarer Brief, der uns alle in freudiges Erstaunen versetzte.
Er schrieb, daß es in seiner Gemeinde viele Leute gebe, denen es schlecht
gehe und die gern zu uns nach Kurland kämen. Er nannte auch ihre
Arbeitslöhne, die weit geringer waren als die der Letten. Wir hatten bisher
gemeint, daß deutsche Arbeiter zu hohe Ansprüche an unsere gedrückte
Landwirtschaft stellen würden, und es erschien uns kaum glaublich, daß man
den lettischen Arbeiter durch einen deutschen ersetzen könnte. Da wir immer
die Verhältnisse im hoch entwickelten Deutschen Reiche vor Augen hatten,
vermochten wir uns schlecht vorzustellen, daß es von Deutschen bewohnte
Gegenden gebe, aus denen nach Kurland versetzt zu werden, für die dortigen
Arbeiter ein außerordentlicher Glücksfall sein könne.
Über diese in Rußland allgemein als
"Kolonisten" bezeichneten deutschen Bauern wußten wir damals noch
wenig. Als erste hatte Katharina II. Schwaben aus Württemberg an der Wolga
angesiedelt; dort hatten sie sich stark vermehrt, etwa auf ½ - ¾ Millionen . Sie hatten ihr Deutschtum, wie auch ihre schwäbische Art,
unverfälscht erhalten, aber in der russischen Umgebung ihre Tüchtigkeit
teilweise eingebüßt. Im besonderen war es für sie verderblich gewesen, daß
sie die russische Ordnung des gemeinsamen Landbesitzes, den "Mir",
angenommen hatten. Diese Einrichtung, wonach der gesamte Acker der Gemeinde
gemeinsam zu eigen ist und in bestimmten Zeiträumen, bisweilen sogar
alljährlich unter ihre männlichen Glieder durch das Los immer wieder neu
verteilt wird, unterband jedes landwirtschaftliche Streben, jede Verbesserung
des Ackers, wie jeden Fortschritt und führte bei wachsender Bevölkerung zu
einer höchst unglücklichen Zersplitterung der Ackerfläche in immer kleinere
Einzelstücke. Da diese Siedler längst keinen Acker mehr hinzukaufen, von dem
vorhandenen aber auch nicht mehr leben konnten, so waren viele zu
Heimarbeitern geworden und dadurch wenig tauglich für unsere baltische
Landwirtschaft. Trotzdem sind später doch manche in unsere Ostseemark und
auch zu mir gekommen. Sie waren rassisch reiner und in ihrem deutschen Wesen
auch unverfälschter als viele der übrigen Siedler Rußlands; und wer von ihnen
einmal tüchtig war, stand nach Gesinnung und Willen zumeist höher als jene anderen,
vor allem, wenn er als Kind dem russischen Einflusse entrückt und in einer
baltischen Schule erzogen war. Im ganzen aber haben die Wolgadeutschen für
unsere Siedlung keine größere Bedeutung erlangt. Es war doch zu schwer, sie
an andere Verhältnisse zu gewöhnen. Das gilt auch für Livland, wo Landrat von
Sivers-Römershof seine Siedlung anfangs mit ihnen aufbauen
wollte.
Auch in den übrigen deutschen Siedlungsgebieten
des russischen Reichs, in Bessarabien, in Taurien und im Kaukasus traf
man zuweilen Schwaben, die ihren dortigen Nachbardeutschen in der Regel
überlegen waren, besonders treu ihr deutsches Wesen wahrten, ein starkes
Stammesbewußtsein besaßen und mit einem gewissen Hochmut auf die anderen, von
ihnen als "Kaschuben" bezeichneten, meist aus Norddeutschland
eingewanderten Siedler herabsahen. Von allen deutschen Stämmen scheint sich
der Schwabe am besten zur Siedlung zu eignen.
Die anderen Kolonisten Rußlands, die sich
hauptsächlich auf Russisch-Polen, Wolhynien und Podolien verteilten, waren
vielfach Nachkommen von Bauern, die der spätere Kanzler Hardenberg aus allen
Teilen Deutschlands herbeigerufen hatte, als er das damals noch zu Preußen
gehörige Warschauer Gebiet verwaltete. Auch sie hatten sich stark vermehrt,
waren aber, als das sogenannte Königreich Polen russisch geworden war, von
den Polen teilweise wieder verdrängt worden, vor allem, weil sie sich 1830
nicht am Aufstande gegen Rußland hatten beteiligen wollen. Immerhin waren
noch große Teile von ihnen in Polen geblieben, viele auch als Arbeiter im
heutigen Litzmannstadt (Umbenennung von uns. Der Verlag) und in anderen
Großwerkgebieten, wo ebenfalls zahlreiche unternehmen in deutschen Händen
waren. Auch von ihnen habe ich manche unter meinen Siedlern gehabt. Sie waren
natürlich dem Ackerbau fremd geworden, aber ihre große Liebe zum Landleben
und der glühende Wunsch, einmal eine eigene Scholle zu besitzen, ließen sie
alle Schwierigkeiten überwinden. Die Städter und Großwerkarbeiter bildeten
sich schneller zu Landwirten zurück, als man es sich in Deutschland
gemeiniglich vorstellt. Die meisten der aus Polen verdrängten Kolonisten aber
waren nach Wolhynien und Podolien weitergewandert. Sie hatten diese damals
noch vielfach wüsten Landstriche im Auftrage der dortigen russischen und
polnischen Gutsbesitzer erschlossen und dabei nicht unbedeutenden Eigenbesitz
erworben, hatten aber auch vieljährige Pachtungen inne (Anm.
5). Weit hinaus zogen sich ihre langgestreckten Dörfer, die durch Ordnung
und Reinlichkeit von deutscher Tüchtigkeit zeugten. Sie waren schließlich auf
4 bis 500000 Seelen angewachsen und hätten sich noch viel weiter ausgedehnt,
wenn sich das erwachende russische und polnische Volksbewußtsein nicht auch
hier allmählich gegen sie gewendet hätte. Kaufverträge, die als unantastbar
galten, wurden für ungültig erklärt; Gutsbesitzer kündigten ihren Pächtern;
wo Deutsche als Knechte dienten, wurden sie entlassen. So war bei ihrer trotz
allem steigenden Volkszahl gerade damals in Wolhynien ein großer Überschuß an
deutschen Kräften vorhanden, der sich unseren Bestrebungen darbot. Von
dorther habe ich die meisten meiner Siedler genommen. Auch sie waren noch
ganz deutsch, weniger durch bewußtes Volksgefühl als durch ihr den Russen
fremdes Kirchenbekenntnis, das ihnen auch eine Vermischung mit jenen
erschwerte. Viel mehr als Blut, Sprache und Sitte hatte ihr lutherischer
Glaube sie deutsch erhalten. Ihre wenigen, über weite Landstrecken verteilten
Pfarrer sorgten aufopfernd dafür, daß sie sich weder ihrer Kirche noch dem
Deutschtum entfremdeten. Diese starke Kirchlichkeit der Kolonisten
erleichterte später ihre Ansiedlung in Kurland; sie waren froh erstaunt, in
ein durchweg evangelisches Land zu kommen, und unsere baltischen Geistlichen,
die immer eine Stütze des Deutschtums gewesen sind, waren ebenfalls beglückt,
ihre neben den lettischen klein erscheinenden deutschen Gemeinden durch die
neuen Ankömmlinge aufzufüllen. Es gab in Wolhynien auch katholische Deutsche,
wenn auch nur in beschränkter Zahl. Sie waren für uns nicht geeignet, denn
sie hätten sich in unserem ausgesprochen lutherischen Lande nicht
wohlgefühlt, hätten ohne Kirche in erreichbarer Nähe die Betreuung durch
deutsche Seelsorger vermißt und wären leicht unter polnischen Einfluß
gekommen, da die wenigen, in den kleinen polnischen und litauischen Gemeinden
Kurlands wirkenden katholischen Geistlichen zumeist Polen waren. Ebensowenig
habe ich Siedler genommen, die protestantischen Sekten angehörten, deren es
in Wolhynien gar nicht so wenige gab. Denn auch für sie hätte ich die Hilfe
unserer Pfarrer entbehren müssen. Die Baptisten, um die es sich vor allem
handelte, hätten Anschluß bei den zahlreichen, ausgezeichneten lettischen
Baptistengemeinden gesucht und wären somit leichter der Verlettung
anheimgefallen.
Alle diese uns nachmals so geläufigen
Einzelfragen lagen noch im Schöße der Zukunft; aber auch das Allgemeine, das
wir als Deutsche über unsere Stammesbrüder hätten wissen müssen, war uns
zumeist unbekannt. Wir hatten weder gehört noch gelesen, daß sich noch im 19.
Jahrhundert eine große deutsche Völkerwanderung nach Rußland vollzog, wobei
es keine Entschuldigung ist, daß die deutsche Regierung ebensowenig von ihr wußte,
geschweige denn sie in ihre Zukunftspläne einbezog. Das Wort Kolonist, das
bald ganz Kurland beherrschen sollte, besagte uns, als wir mit Spannung den
Brief des Rownoschen Pastors lasen, nur wenig. Die Herren unseres kleinen
Ausschusses baten mich aber doch, gleich — es war im Februar 1906 — nach
Wolhynien zu fahren. Ich nahm meinen Bevollmächtigten, Baron Simolin,
und den meiner alten Tante, der Gräfin Medem-Grünhof, Herrn
von Villon,
mit, die also mit mir zu den drei Balten gehören, die als erste nach
Wolhynien gefahren sind. Als wir nun an die Memel kamen, sagte ich im Scherz
zu den Herren, unser Übergang werde hoffentlich mehr Erfolg haben als der
Napoleons. Ich ahnte nicht, daß wir wirklich im Begriff waren, eine kleine
Völkerwanderung anzubahnen, die rund 16000 Menschen nach Kurland bringen
sollte und die, weiterwachsend, unabsehbare Erfolge hätte zeitigen können,
wenn der Weltkrieg nicht dazwischen gekommen wäre.
Am Morgen nach unserer Ankunft in Rowno führte
uns Pastor Althausen gleich in die deutsche Schule. Wir
erhielten dort einen erschütternden Eindruck. Es war ein halbverfallenes,
schlecht geheiztes Gebäude. Ein äußerlich wenig gehobelter Lehrer, der kaum
mehr als lesen und schreiben konnte, unterrichtete eine große Schar ärmlich
gekleideter, hungrig dreinblickender Kinder. Da drängte sich uns
unwillkürlich der Vergleich mit den prächtigen Volksschulen in Kurland auf,
die wir zumeist selber den Letten gebaut hatten, wo wohlgenährte, gut
gekleidete Kinder in schönen, warmen Räumen von tüchtigen, fachlich
vorgebildeten Lehrern unterrichtet wurden, und wir empfanden es wie ein
Unrecht an diesen armen Kolonisten, daß wir den Letten und nicht ihnen jene
Schulen geschenkt hatten. Wir sagten uns aber auch, daß wir diesen Leuten in
der Tat eine Wohltat erweisen würden, wenn wir sie nach Kurland
herüberriefen. Zu einer Versammlung, die wir bald darauf im Schulhause
abhielten, fanden sich viele ebenfalls elend und vielfach auch kränklich
aussehende Männer und Frauen ein, denen ich den Vorschlag machte, nach
Kurland zu kommen. Sie hörten unsere guten, im Verhältnis zu ihrer damaligen
Lage sehr vorteilhaften Lohnbedingungen, und ich konnte ohne Schwierigkeit
noch in derselben Stunde die von mir gewünschten vierzig Arbeiter anwerben.
Gleichzeitig bat ich den Pfarrer, mir zwei
sogenannte Küsterlehrer zu empfehlen, die zunächst die Übersiedlung leiten,
später die Leute betreuen und zwischen ihnen und mir ein Verbindungsglied
sein sollten. Diese für ihren Beruf ganz ungenügend vorgebildeten, in ihrem
Wesenskern aber meist vorzüglichen Lehrer hatten in Wolhynien auch noch den
Pfarrer zu vertreten, der bei den großen Entfernungen die einzelnen Gemeinden
oft nur ein- bis zweimal im Jahre besuchen konnte. Sie hielten die
sonntägliche Andacht, schlichteten Streitigkeiten und waren die
Vertrauensmänner der Gemeinde wie auch der Einzelnen. Es waren fast immer
zuverlässige, deutsch gesinnte Männer. Ihre mangelnde Schulung brachte es mit
sich, daß ihnen mit der Halbbildung unserer lettischen Lehrer auch deren
zersetzende Denkart fehlte. Sie waren echte Bauern, erdverbunden, volkstreu
und gottesfürchtig und bewahrten diese ihre schlichte und klare Gesinnung
auch in Kurland.
Im Gegensatz zu den Letten waren die Kolonisten
unter sich meist einig und hatten mit Recht zu ihren Führern Vertrauen. Ihre
Hauptforderungen waren Kirche und Schule, Wünsche, die ich nur zu gerne
hörte; denn es war ja mein Bestreben, mit diesen Leuten unserem Deutschtum
und unserer Kirche neues Blut zuzuführen. So sollten die in meine Dienste
tretenden Küsterlehrer den Kolonisten an solchen Sonntagen, an denen in den
Katzdanger Kirchen kein deutscher Gottesdienst stattfand, Bibel und Predigt
vorlesen.
Schon am nächsten Tage fuhren wir zu Pfarrer Barth
nach Nowograd-Wolynsk. Dort bot sich ein völlig anderes Bild. Der Pfarrer
führte uns in eine verhältnismäßig wohlhabende Kolonie. Wir sahen reiche
Gehöfte, gutes Vieh und auch besser gekleidete Menschen. Gradlinige, mit
Obstbäumen bepflanzte Straßen wurden von den deutschen Niederlassungen, deren
Wohnhäuser fast immer am Wege lagen, gesäumt. Wir besuchten etliche Bauern
und erhielten den Eindruck von festgefügten, glücklichen Siedlungen. Als wir
am Abend mit dem Pfarrer voller Bewunderung über unsere Eindrücke sprachen,
meinte er, es sei das einzige Lebensziel aller Kolonisten, einmal einen
eigenen Hof zu besitzen, und auch wir würden auf die Dauer deutsche Knechte
nur bekommen, wenn wir ihnen die Aussicht auf eigenes Land eröffnen könnten.
Überhaupt habe ein Heranziehen von Deutschen nach Kurland nur dann Zweck und
Bestand, wenn man gleichzeitig versuche, einzelne von ihnen als Besitzer
anzusiedeln. Dieser Gedanke berührte mich wunderbar neu. Man war so gewohnt,
nur lettische Bauern in Kurland zu sehen, daß man sich deutsche an ihrer
Stelle zuerst gar nicht denken konnte. Ich mußte immer wieder fragen, ob sich
diese Bauern bei uns auch wirklich wohl fühlen würden; aber der Pfarrer wies
mit Recht darauf hin, daß es der lettische Bauer im ganzen nicht schwerer
habe als der wolhynische, daß der Boden in Kurland auch reich, die Höfe aber
zumeist größer seien und daß alles, was uns hier an ihnen angezogen habe,
ihre äußerliche Gepflegtheit, Sauberkeit und Ordnung, Eigenschaften seien,
die die Kolonisten leicht in ihre neue Heimat übertragen würden. Er sehe also
keinen Grund, warum diese Leute nicht ebensogut, ja nicht noch besser in
Kurland vorwärtskommen sollten. Trotzdem fiel es mir schwer, mich in diese
Vorstellung hineinzuleben, und beim Schlafengehen sagte ich noch zu Baron
Simolin: "Wenn ich mir denke, daß ich hundert solche Deutsche in
Katzdangen haben könnte, das wäre doch unsagbar schön". Ich habe später
3 bis 4000 Siedler auf meinen Gütern gehabt und fand dies noch immer zu
wenig. Mit den Erfolgen wachsen die Wünsche.
Bei meiner Heimkehr kam ich in Mitau gerade zum
Landtage zurecht. Ganz erfüllt von meinen Eindrücken hielt ich den Herren
einen Vortrag über Wolhynien und über die Aussichten, die sich uns mit einer
planmäßigen Siedlung eröffneten. Da die Kolonisten im Gegensatz zu den
reichsdeutschen Jägern russische Untertanen seien, brauche man einen
Einspruch der Regierung, selbst gegen eine größere Einwanderung, kaum zu
befürchten. Es gelang mir, bei vielen Anteilnahme zu erregen. Wir
wählten einen Ausschuß, der diese Frage weiter beraten sollte, an dessen
Spitze mein Onkel, Graf Keyserling-Altenburg , gestellt wurde. Es war mir lieb, daß er nicht als
rücksichtslos deutsch, sondern gegen die russischen Forderungen eher als
nachgiebig galt. Auch dadurch erhielt unser Unternehmen für die Regierung ein
unschuldigeres Aussehen. Indem ich aber selber die Geschäftsführung übernahm,
blieben doch alle Entscheidungen in meiner Hand, um so mehr, als sich
Keyserling im besten Sinne von mir beeinflussen ließ.
Das ganze Land wurde nun in Bezirke geteilt und
an die Spitze eines jeden ein angesehener und deutschgesinnter Gutsbesitzer
gesetzt, wenn möglich jemand, der auch selber Siedler in seine Dienste zu
nehmen gedachte. An ihn sollten sich alle wenden, die in diesem Bezirke
Kolonisten einstellen wollten, damit die Werbung einheitlich wäre und nicht
einer dem anderen die Ankömmlinge ausspannte.
Nach Wolhynien sandten wir als unseren
Vertreter den jungen Oberförster, W. Lackschewitz, der außerordentlich tüchtig, dabei taktvoll und für die
Sache begeistert war. An ihn hatten die einzelnen Vertrauensmänner um
Zuweisung von Siedlern zu schreiben. Er wiederum sollte die Knechte anwerben,
sie zur Bahn bringen, allen bösen Ausstreuungen, denen die kindlich
leichtgläubigen Leute, wie sich später zeigte, oft zum Opfer fielen, immer
wieder entgegentreten und überhaupt von Kurland ein wahrheitsgetreues Bild
entwerfen. Denn natürlich bestand auch umgekehrt die Gefahr, daß vielleicht
durch zu gute Schilderungen gerade die Untüchtigen angezogen werden konnten,
die dann die Kolonisten in Kurland und später, weil sie selber dort nicht
vorwärtsgekommen waren, Kurland bei den Kolonisten in schlechten Ruf bringen
würden.
Zur gleichen Zeit aber ging ich noch einen
Schritt weiter. Wir gründeten in Mitau eine Kasse, aus der den Gutsherrn, die
Kolonisten ansiedeln wollten, Hilfsgelder oder Darlehen gezahlt werden
sollten. Sie war vornehmlich als Hauptbank gedacht, da in den einzelnen
Kreisen mit der Zeit eigene Anstalten gleicher Art geschaffen werden sollten,
was auch teilweise geschah.
Diese allgemeinen Einrichtungen haben nicht das
gehalten, was ich von ihnen erhofft hatte. Die Gründe hingen mit
Menschen, nicht mit der Gesamtlage zusammen. Ich kann mich um so mehr auf die
Schilderung meiner eigenen Siedlung beschränken, als es mir auch hier nur
darauf ankommen wird. Allgemeingültiges herauszuheben.
Ich begann sofort für die Siedler, die ja
zuerst als Knechte kommen sollten, zwei Güter bereitzustellen. In Kurland
fand jedes Jahr ein gewisser Arbeiterwechsel statt. Bei meinem
verhältnismäßig großen Besitz war es deshalb leicht, einen Hof völlig
zu räumen, indem ich die Knechte, die ich behalten wollte, in die auf meinen
anderen Gütern freiwerdenden Stellen versetzte. Zudem entschloß ich mich
noch, das nicht große Gut des Baron Simolin hinzuzukaufen,
wo ich ja als neuer Besitzer keine Verpflichtungen gegen die lettischen
Knechte hatte und alle Stellen für die erwarteten Deutschen freihalten
konnte. Man tat damit eigentlich keinem Letten ein Leid an. Bei der
schwachen, wenn auch den städtischen Balten immer noch überlegenen Vermehrung
der lettischen Bevölkerung bestand ein gewisser Mangel an Arbeitskräften, und
Entlassene fanden leicht neue Anstellung. Außerdem haftet der Lette nicht am
Lande und zieht gern in die Stadt. Die Beamtenschaft blieb auf beiden Gütern
zunächst lettisch; denn die Ankömmlinge kannten ja die kurländischen
Verhältnisse noch nicht. Doch beschloß ich, die beiden mitkommenden
Küsterlehrer bei mir Landwirtschaft lernen zu lassen, um auf diese Weise auch
Gutsaufseher aus den Kolonisten zu erziehen, denen sich ihre Landsleute
lieber fügen und die für diese auch mit mehr Verständnis sorgen würden. Das
habe ich auch weiter so gehalten. Von nun an lernten jahraus jahrein je zwei,
meist jüngere Küsterlehrer den Ackerbau in Katzdangen, wo sie zuerst als
sogenannte Schildreiter — diese altertümliche Bezeichnung hatte sich dort für
eine Art Unteraufseher noch erhalten — Dienst taten, um dann als Beamte und
Verwalter auf meine verschiedenen Höfe verteilt zu werden. Später, als ich
alle Stellen mit Deutschen besetzt hatte, kamen so von mir geschulte Beamte
auch auf Nachbargüter.
Unter solchen Vorbereitungen rückte der Tag, an
dem die Siedler kommen sollten, schnell heran. Da erhielt ich überraschend
von den beiden neu verpflichteten Küsterlehrern einen gemeinsam verfaßten,
erregten Brief, daß die angeworbenen Leute, durch irgendwelche, anscheinend
von Letten ausgestreute Gerüchte abgeschreckt, nicht mehr kommen wollten. Ich
hatte die Küsterlehrer durch eine günstige Anstellung gleich für mich
gewonnen, und sie waren bereit, jenen Gerüchten entgegenzuwirken und, wenn
nötig, neue Knechte anzuwerben. Ich schrieb ihnen zurück, sie möchten am
besten zuerst selber nach Kurland kommen, womöglich noch andere mitbringen,
um sich das Land anzusehen. Auf diese Weise meinte ich, am besten allen
törichten Ausstreuungen zu begegnen. Die zwei Kundschafter kamen auch, es
waren der Küsterlehrer Blueschke und sein Schwager, mein
späterer Kutscher Wolter, die somit als erste Kolonisten den
Boden Kurlands betreten haben. Da ich lettische Machenschaften fürchtete,
holte ich sie selber von der Bahn ab und fuhr mit ihnen, wiewohl ich gerade
erkrankt war, Schmerzen und hohes Fieber hatte, den ganzen Tag auf meinen Gütern
umher, ohne sie einen Augenblick mit einem Letten allein zu lassen; denn ich
war überzeugt, daß sonst neue Quertreibereien die Folge sein würden. Sie
waren durch die kurländischen, Wolhynien doch sehr überlegenen Zustände tief
beeindruckt. Ich aber war glücklich, als ich sie wieder zur Bahn gebracht
hatte, und mich ins Krankenbett legen konnte. Diese Kundschafter waren gut
ausgesuchte, ordentliche Leute; ihnen verdanke ich es, daß später alles
wunschgemäß verlief.
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